Hintergrund - 26.11.2024 - 08:00
Am 21. November organisierten Doktoranden und Postdoktoranden der Universität St.Gallen (HSG) zum 22. Mal das DocNet Symposium. Reto Föllmi, VWL-Professor und Prorektor der HSG, begrüsste über 200 Teilnehmende im SQUARE. «Sie sind die Motoren der Innovation», wandte er sich an die Studierenden und Forschenden. «Ich freue mich auf Ihre Ideen, wie wir diese Welt verbessern können.» Erste Rednerin war die Journalistin Ulrike Herrmann. Sie lehnt die Idee des «grünen Wachstums» ab, die auf Technologie zählt, um die Klimakrise zu lösen. «Das wird nicht funktionieren, weil wir nicht genug grüne Energie haben werden, um eine wachsende Wirtschaft zu versorgen.» Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, beschrieb sie einige Probleme der Energiewende wie die stochastische Produktion erneuerbarer Energien und den Mangel an Stromspeicherkapazitäten. «Kern des Kapitalismus ist die Nutzung von Energie. Wenn wir die Maschinen nicht antreiben können, ist dies das Ende des Kapitalismus. Es ist jedoch nicht das Ende der Menschheit.» Sie plädierte für Suffizienz und zog eine Analogie zur britischen Kriegswirtschaft von 1939: «Sie schrumpften die Wirtschaft, um genug Waffen für den Krieg zu produzieren.» Die Produktion anderer Güter wurde gedrosselt, sie wurden rationiert und gleichmässig verteilt. «In einer schrumpfenden Wirtschaft braucht es staatliche Planung, um sicherzustellen, dass einige Menschen nicht leer ausgehen.»
Timothée Parrique, HEC Lausanne, nahm online teil. Seiner Beobachtung nach ist es sehr selten, dass Länder ihr BIP ohne negative ökologische Auswirkungen steigern. «Fortschritt wird schlecht mit BIP gemessen. Wir sollten uns auf die Steigerung der Lebensqualität konzentrieren.» Was ist zu tun? Business Schools sollten ihre Lehrpläne anpassen und mehr Vielfalt zulassen. «Die Wirtschaftsstudenten von heute werden Unternehmen und Regierungen in Krisensituationen beraten. Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht als engstirnige Ökonomen enden, die nur auf das BIP schauen.» Studierende, Forschende, Entscheidungsträgerinnen und -träger sollten neue Dinge ausprobieren: «Die Wirtschaft ist kein Jenga-Turm, der zusammenfällt, wenn man etwas berührt. Es ist eine aufregende Zeit, um Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Wir sollten es mutig und kreativ tun.»
Professor Mathias Binswanger hielt eine kurze Vorlesung über die Geschichte und den Mechanismus des modernen Wirtschaftssystems. «Bis zum 19. Jahrhundert gab es kein Wachstum im Sinne des BIP pro Kopf.» Dies begann erst mit der Industrialisierung, als Kapital den Boden als Hauptproduktionsfaktor ersetzte. Seitdem ist Wachstum unerlässlich: «Wir leben in Geldwirtschaften, in denen Unternehmen Gewinne erzielen müssen, um zu überleben. Dazu benötigen sie einen Geldzufluss für Investitionen, um die Produktion zu steigern.» Erfolgreiche Volkswirtschaften zeichnen sich in der Regel durch eine steigende Geldmenge und ein steigendes BIP-Wachstum aus. Agnes Jezler von Greenpeace Schweiz bezeichnete die HSG als «einen der spannendsten Orte für diese Diskussionen». Sie ist der Meinung, dass es Zeit für einen Paradigmenwechsel ist. «Die Idee des grünen Wachstums hatte ihre Chance und es ist Zeit, dass sie abtritt.» In Krisenzeiten sind Ökonomen gefragt: «Die Menschen und die Medien erwarten von Ihnen Orientierung. Ihre Wirkung hängt davon ab, welche Fragen Sie stellen, was Sie lehren und welche Modelle Sie erforschen.»
«Angesichts der wachsenden Bevölkerung brauchen wir irgendeine Art von Wachstum», sagte EPFL-Professor Dominique Foray. «Aber wir müssen die richtige Kombination von Marktinstrumenten, Technologien und sozialen Normen finden. Wir sind gut darin, Technologien zu verändern, aber bei sozialen Normen oder Konsummustern ist es schwieriger.» «Wir leben wahrscheinlich besser als je zuvor», sagte Mathias Binswanger. «Die Menschen wollen nicht experimentieren und das aufs Spiel setzen.» Dies führt zu einer schizophrenen Situation, in der wir über Veränderungen reden, aber anders handeln. «Vor 100 Jahren haben unsere Bedürfnisse die Wirtschaft angetrieben. Heute glauben wir nicht mehr, dass uns mehr Konsum glücklicher macht, aber wir tun es, weil wir befürchten, dass das System sonst zusammenbricht. Nicht wir steuern das System, es steuert uns.» Aber nicht nur Produzenten und Verbraucher spielen eine entscheidende Rolle beim Umbau der Wirtschaft, wie Vermögensverwalter Jürg Rimle betonte: «Investoren und Vermögensinhaber tragen eine gemeinsame Verantwortung. Wir müssen überdenken, was wir mit unseren Investitionen erreichen wollen.»
Walter R. Stahel, ein Gründungsvater der Kreislaufwirtschaft, drückte seine Enttäuschung aus: «Der Wandel wird von keinem grossen Unternehmen und keiner Regierung unterstützt.» Er riet dem Publikum, sich auf die Nutzung von Gütern statt auf deren Produktion zu fokussieren. «Sie müssen Ihre Wahrnehmung von Abfall komplett ändern. Die Güter von heute sind die Ressourcen von morgen.» Carlos Alvarez Pereira, Generalsekretär von The Club of Rome, machte den Abschluss. Er sieht es als Aufgabe seiner Organisation, mit einem interdisziplinären Ansatz bessere Fragen über die Zukunft der Menschheit zu stellen. Warum? «Weil wir in persönlichen und sektoralen Blasen leben. Nach der Logik dieser Blasen ergibt alles Sinn. Aber wenn man alle Blasen zusammennimmt, ergibt nichts Sinn, weil wir Selbstmord begehen.» «Die Grenzen des Wachstums», veröffentlicht 1972, war der erste Versuch eines globalen Modells. Das Standardmodell wurde seither im Wesentlichen bestätigt. Es gab aber auch Szenarien, die ein Gleichgewicht zwischen der menschlichen Zivilisation und den globalen Grenzen zeigten. Um dies zu erreichen, müssen alle Kapazitäten mobilisiert werden: «Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, können nicht von Ökonomen allein gelöst werden. Das Wichtigste ist, unser Mindset zu ändern. Typischerweise geschieht dies in Krisenzeiten.»
Bilder: Tarek Carls
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