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Leute - 13.12.2024 - 10:30 

Tanzend Mensch sein: Die Diversity-Spezialistin Anna-Katrin Heydenreich

Wir schätzen sie als engagierte Fachspezialistin für Diversität und Inklusion (D&I) und als Lehrbeauftragte an der HSG. Aber Anna-Katrin Heydenreich hat noch eine andere Begabung. Sie tanzt. Auf der Bühne und mit Leidenschaft. Von zeitgenössisch bis orientalisch. Deshalb gehört sie in unsere Portraitreihe interessanter Menschen an der HSG.

Irgendetwas ist anders. Sind es die Schultern? Der Rücken? Die Haltung? Die Haltung, die Gesamterscheinung, das ist es wohl. Das ist, was gute Tänzerinnen ausmacht. Anna-Katrin Heydenreich wirkt anmutig, elegant, fokussiert. Und ähnlich wie ihre Körperbewegungen wählt sie ihre Worte. Beides mit Bedacht. Und dann ist da dieser Blick. Anna-Katrin Heydenreich strahlt etwas Verträumtes aus.

Ballett und eine türkische Hochzeit

Wofür ihr Herz schlägt, verrät Anna-Katrin Heydenreich gleich zu Beginn des Interviews. Sie zeigt strahlend eine Videoaufnahme von ihrem letzten Tanzauftritt. Frauen in orientalisch inspirierten Flamenco-Kostümen, die Armbewegungen weich und wellenförmig. Aus dem Hintergrund Klänge von Streichern und Piano. «Tanz ist ein Gesamtkunstwerk», schwärmt sie. Dann ein zweites Video – eine Probe. Schnelle, schwungvolle Bewegungen, sportliche Kleidung. Bis jede Bewegung sitzt, werden die Choreografien über Wochen intensiv einstudiert, erklärt Heydenreich.
 
Tanz fasziniert Anna-Katrin Heydenreich seit ihrer Kindheit. Mit sechs Jahren nahm ihre Grossmutter sie erstmals mit zu Tanzaufführungen des berühmten Stuttgarter Balletts. Zu Klassikern wie ‘Nussknacker’ und ‘Der Widerspenstigen Zähmung’ von Starchoreograph John Cranko – bekannt fürs Geschichtenerzählen und für emotionale, ausdrucksstarke Werke. «Ich verliess den Saal jedes Mal mit der Überzeugung, dass man nur glücklich sein kann, wenn man tanzt», erinnert sich Heydenreich. Nach den Stuttgarter Ballettstücken und einer türkischen Hochzeit, wo sie erstmals eine Bauchtänzerin sah und begeistert war, besuchte sie im Gymnasium erste Kurse in Standardtänzen und Rock ‘n’ Roll. 

«Tanzen ist für mich eine Möglichkeit, aus dem Alltag in eine andere Welt einzutauchen – mit allen Sinnen. Ich kann mich körperlich auspowern und fühle mich musisch und emotional berührt.»
Anna-Katrin Heydenreich

Mit dem sogenannten Orientaltanz pflegte sie lange Zeit eine «On-Off-Beziehung». Die Faszination war gross, aber Musik und Outfits fühlten sich fremd an. Erst als sie beim Unisport der HSG Bauchtanzunterricht nahm, ganz unkompliziert mit Strandtüchern um die Hüften – zu einer Zeit, als Shakira den Orientaltanz in die Popkultur integrierte – konnte sie sich auf diesen Tanzstil einlassen, erzählt sie. Mit der Zeit erkundete sie verschiedene Ausprägungen von «Oriental Fusion», eine Mischung aus klassischem orientalischem Tanz und Tanzgenres wie Modern Dance und Flamenco. Und doch kehrt sie immer wieder gerne zum klassischen Orientaltanz zurück, intensiv einmal im Jahr im «Mediterranean DanceLab» von Boženka Arencibia, Shakiras langjähriger Lehrerin und Choreografin.

«Turkish Roman Fusion»: Anna-Katrin Heydenreich bei «20 Jahre Verein Musik + Migration» in St.Gallen (Bild: pd)

Tänzerinnen der «Rhythm-in-Motion»-Tanzkompanie am Vaduz Classic Festival 2019» (Bild: Andreas Domjanic)

«Oriental Dance» – zur Live-Musik der «Nile Group» (Bild: Augustin Saleem)

Als Diversity-Spezialistin und Dozentin an der HSG (Bild: Anna-Tina Eberhard)

Tanz und Ausdruck

Anna-Katrin Heydenreich schätzt beim Tanzen vor allem den spielerischen Umgang mit verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten. Mal sanft und sinnlich, mal energisch und intensiv. Grenzen können sich verschieben – sowohl körperliche als auch selbst gesetzte. Der weibliche Körper werde in unserer Kultur viel weniger zelebriert als in anderen – etwa in der orientalischen, wo Hüften und, wie die Kenner:innen das nennen, «binnenkörperliche Bewegungen» betont werden, so Heydenreich. Weibliche Formen im Tanz zu betonen sei bei uns kaum üblich. Besonders fasziniert sie, wie Tanz die Inszenierung von Geschlecht erlebbar macht. Mal mehr, mal weniger. Und sie dürfen sich auch auflösen. Drag Queens etwa inszenieren und zelebrieren Weiblichkeit unabhängig vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht, wie die Diversity-Expertin betont. Tanz bringt nicht nur Bewegungen, sondern auch Rollen ins Fliessen. Auch deshalb nimmt Heydenreich gerne Unterricht bei weiblichen wie auch bei männlichen Tanzlehrer:innen. Im Tanz gehe es um die Verknüpfung von Gegensätzen, aber auch um ihre Balance. So gibt es sanfte und akzentuierte Bewegungen, Phasen der Anspannung und solche der Entspannung – eine Technik, die als ‘contract release’ bezeichnet wird, erklärt sie. 
 
Und dann kamen die eigenen Tanzauftritte hinzu, etwa an der TheaterTanzSchule St.Gallen. All die Jahre habe sie sich immer als Gruppentänzerin verstanden, sagt Heydenreich. Es ging ihr um die persönlichen Begegnungen, um voneinander zu lernen und sich selbst besser kennenzulernen. «Ich bin gerne mit Menschen zusammen, die mich überraschen, inspirieren und andere Erfahrungen mitbringen.» Immer öfter versuche sie sich auch als Solotänzerin, bei Hochzeiten, Geburtstagen oder Anlässen wie dem Tanzfest St.Gallen. Aber «nicht als Tanzprofi», wie sie anmerkt. Wichtig ist ihr: «Ich verstecke mich nicht mehr, und ich frag mich nicht mehr, ob diese zum Teil eher ausgefallenen Tanzstile auf andere befremdlich wirken.» Stattdessen wolle sie vor allem machen, was ihr Freude bereite. Dinge tun, bei denen sie «ganz sie selbst» sein kann.  

«Beim Tanzen fühle ich mich freier und leichter – es ist für mich eine Quelle der Entspannung wie auch ein Ort des Lernens.»
Anna-Katrin Heydenreich

Diversität als Bereicherung 

Beruflich ist Anna-Katrin Heydenreich seit fünf Jahren Fachspezialistin für Diversität und Inklusion an der Universität St.Gallen. Die Fachstelle Diversity, Equality & Inclusion helfe bei Fragen zu Geschlechtergerechtigkeit, LGBTIQ+, Rassismus oder der Vereinbarkeit von Familienpflichten mit Studium und Beruf, erklärt sie. Auch berate sie bei «Verletzungen der persönlichen Integrität» und zur inklusiven Sprache. «Diversität ist ein gesellschaftliches Faktum, so auch an einer Business- und Managementschool», betont sie. Wie beim Tanzen schätzt sie auch in ihrer Arbeit an der HSG den intensiven Kontakt mit vielfältigen Menschen und ihren Geschichten. 

«Wir wollen zu einer Kultur beitragen, die Machtgefälle aktiv ausgleicht und allen die Möglichkeit gibt, sich zugehörig zu fühlen», sagt Heydenreich. Diversitätsthemen stärker in den Fokus zu rücken sei auch Ziel schweizweiter Projekte, an denen sich die HSG beteiligt, erklärt sie. Etwa der «Tag gegen sexuelle Belästigung» des Schweizer Hochschulverbandes swissuniversities oder die «Aktionstage gegen Rassismus».

«Wir bewegen uns nach wie vor mehrheitlich in sogenannten ‘sozialen Bubbles’. Doch dabei vergessen wir: Diversität macht das Leben interessant, schöner und bunter. Es ist eine Bereicherung.»
Anna-Katrin Heydenreich

Ursprünglich schrieb Anna-Katrin Heydenreich ihre Dissertation an der HSG über Nachhaltigkeit. Doch im Austausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Organisationspsychologie (OPSY-HSG) lernte sie die ‘Gender Studies’ näher kennen und vertiefte sich schliesslich in die soziale Dimension der Nachhaltigkeit. «Die Bausteine fügten sich ‘step by step’ wie von selbst zusammen». Eines war ihr dabei immer wichtig: «Ich wollte nie nur auf einer Schiene sein.» 

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Tanz und Diversity. Vielleicht ist die Verbindung nicht offensichtlich. Wer aber Anna-Katrin Heydenreich zuhört, merkt, dass sie auf der Hand liegt. Ob Tanz oder Diversity, beide erfordern ein feines Gespür für Unterschiede und die Fähigkeit, diese harmonisch zu vereinen. Beide bieten die Möglichkeit, Rollen zu hinterfragen und neu auszulegen. Beide erfassen den Menschen in seiner Vielfalt, in seiner Beweglichkeit. Schliesslich steuert der Tanz noch etwas hinzu, von dem auch die Diskussion gesellschaftlicher Vielfalt profitieren kann: Freude und Aufmerksamkeit. Der deutsche Dichter und Philosoph Friedrich Schiller schrieb 1795 in seinen Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen», der Mensch sei «nur da ganz Mensch, wo er spielt». Wer mit Anna-Katrin Heydenreich spricht, kommt zum Schluss, der Mensch sei da ganz Mensch, wo er tanzt. 


Dr. Anna-Katrin Heydenreich, geboren 1973 in Stuttgart, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg. 2008 promovierte sie an der Universität St.Gallen zu Dilemmata in Multi-Stakeholder-Prozessen. Seit 2008 ist sie Lehrbeauftragte für Nachhaltigkeit und Klimapsychologie am Lehrstuhl für Organisationspsychologie (OPSY-HSG) und seit 2019 Fachspezialistin Diversity & Inclusion an der Universität St.Gallen.
 


Hauptbild: Anna-Tina Eberhard

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