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Forschung - 13.12.2024 - 16:30 

Klimawandel vor Gericht: Wie der Internationale Gerichtshof (IGH) globale Verpflichtungen neu auslegt

Die Anhörung ist abgeschlossen, die Debatte kann beginnen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat sich vom 2.-13.Dezember 2024 in einer aussergewöhnlichen Anhörung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten im Kampf gegen den Klimawandel beschäftigt. Die einzigartige Analyse von HSG-Völkerrechtsprofessor Thomas Burri ermöglicht ein erstes inhaltliches Lagebild des Verfahrens. Es zeigt, wie die Stellungnahmen von 91 Staaten und Organisationen das Verständnis des internationalen Rechts des Klimawandels prägen könnten.

Vom 2.-13. Dezember 2024 liefen in Den Haag die öffentlichen Anhörungen des IGH zu einem Gutachten, das die rechtlichen Verpflichtungen der Staaten im Kampf gegen den Klimawandel beleuchtet. Dieses Verfahren, initiiert durch eine Resolution der UN-Generalversammlung, ist nicht nur ein rechtshistorisches Ereignis, sondern bietet auch eine einzigartige Gelegenheit, die Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts zu beobachten. Die Eingaben der Länder umfassen schriftliche Stellungnahmen von 91 Staaten und Organisationen. Prof. Dr. Thomas Burri hat sie mit seinem Team statistisch analysiert. Seine Analyse ist wie eine Röntgenaufnahme durch 10'000 Seiten juristischer Gutachten.

«Im grössten internationalen Gerichtsverfahren der Geschichte drängen die meisten Staaten den Gerichtshof, dem Klimawandel mutig entgegenzutreten.»
Prof. Dr. Thomas Burri

Wichtige Ergebnisse der Analyse

  • Mehrheit der Staaten will Völkerrecht stärken
    – 67 % der schriftlichen Eingaben sprechen sich für einen weiten Geltungsbereich des Völkerrechts in Bezug auf den Klimawandel aus, der über bestehende Klimaverträge hinausgeht und Gewohnheitsrecht, Menschenrechte und Seerecht einbezieht.  
    – 15 % favorisieren einen engen Fokus, beschränkt auf die bestehenden Klimaverträge wie das Pariser Abkommen.
    – 18 % der Eingaben enthalten keine eindeutige Position zu dieser Frage.  
  • Staaten sollen zur Verantwortung gezogen werden können
    Drei Viertel (75 %) der Eingaben betonen die Bedeutung des allgemeinen Rechts der Staatenverantwortung, auch im Kontext von Klimaverstössen. Dies könnte auf eine Haftung bei Verstössen gegen Gewohnheitsrecht oder allgemeine Verpflichtungen hinauslaufen. Nur 15 % vertreten die Ansicht, dass das Pariser Abkommen das allgemeine Völkerrecht aus der Verantwortung verdrängt. Zu diesen Staaten zählt Grossbritannien. Die USA, die während Donald Trumps erster Amtszeit bereits einmal aus dem Pariser Klimaabkommen ausgetreten waren, halten die Staatenverantwortlichkeit zwar für relevant, aber in engem Rahmen.
  • Mehrheit will Ächtung von grenzüberschreitenden Schäden durch Treibhausgase
    Eine deutliche Mehrheit der Teilnehmer (76 %) wünscht die Anwendbarkeit des «Grundsatzes der Vermeidung grenzüberschreitender Schäden» auch auf Treibhausgasemissionen. Das könnte zu einer globalen Verpflichtung zur Emissionsminderung führen, unabhängig von spezifischen Klimaverträgen wie dem Pariser Abkommen. Nur 14 % lehnen diese Anwendbarkeit ab, wobei vor allem das Vereinigte Königreich und die USA alternative Argumente vorbringen, für den Fall, dass der IGH den Grundsatz für anwendbar erklären würde.
  • Anwendung von Menschenrechten in Fragen des Klimawandels  
    38 % der Eingaben unterstützen eine extraterritoriale Anwendung von Menschenrechten im Kontext von Klimawandel, insbesondere bei grenzüberschreitenden Auswirkungen. Dies impliziert die Zuständigkeit, bzw. die Pflicht jedes Staates, Menschenrechtsverletzungen auch ausserhalb seines Territoriums zu verhindern. 19 % lehnen dies ab und argumentieren für eine Beschränkung auf territoriale Verpflichtungen, ähnlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der «KlimaSeniorinnen»-Entscheidung. Die restlichen 43 % äussern sich nicht eindeutig zu dieser Frage.
  • Stärkung des internationalen Rechts im Kampf gegen Klimawandel
    Viele Eingaben betonen die Notwendigkeit einer kohärenten Interpretation, die Umweltrecht, Menschenrechte und das allgemeine Völkerrecht integriert, um dem globalen Charakter des Klimawandels rechtlich angemessen zu begegnen.
Prof. Dr. Thomas Burri, Professor für Europa- und Völkerrecht

Historische Bedeutung des Verfahrens

Das Beratungsverfahren des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zur Klärung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten im Umgang mit dem Klimawandel hat bereits vor der Urteilsfindung historische Bedeutung erlangt. Mit schriftlichen Stellungnahmen von 91 Staaten und Organisationen ist es das umfangreichste Verfahren in der Geschichte des IGH. Fast alle UN-Mitgliedsstaaten sind direkt oder indirekt beteiligt, darunter viele, die erstmals vor dem Gericht auftreten, wie etwa kleine Inselstaaten. 

Weiterentwicklung des internationalen Gewohnheitsrechts

Ein zentraler Aspekt des Verfahrens ist die potenzielle Weiterentwicklung des internationalen Gewohnheitsrechts. Die Vielzahl sogenannter «opinio iuris»-Erklärungen – also rechtlicher Überzeugungen der Staaten – bietet eine einzigartige Gelegenheit, die Entstehung und Festigung von Völkergewohnheitsrecht zu analysieren. Besonders relevant ist dabei die Frage, ob und wie der Grundsatz der Vermeidung grenzüberschreitender Schäden auf menschengemachte Treibhausgasemissionen angewendet werden kann. Die Mehrheit der eingereichten Stellungnahmen unterstützt diese Anwendbarkeit, was darauf hindeutet, dass sich eine globale Verpflichtung zur Emissionsminderung unabhängig von spezifischen Klimaverträgen etablieren könnte.

Menschenrechte und Klimawandel

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Menschenrechten im Kontext des Klimawandels. Während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Klimapflichten der Staaten bislang auf ihr Territorium beschränkt sieht, könnten die Ergebnisse des IGH eine extraterritoriale Zuständigkeit stärken. Dies wäre insbesondere für Staaten von Bedeutung, deren bedeutende Emissionen eindeutig grenzüberschreitende Auswirkungen haben und damit auch kleine Inselstaaten und besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen betreffen.

Verhältnis zum Pariser Abkommen und anderen Rechtsgebieten

Das Verfahren beleuchtet zudem die Verknüpfung verschiedener Rechtsgebiete. Der IGH wird klären, ob bestehende Klimaverträge wie das Pariser Abkommen als «lex specialis» gelten – also spezielles Recht darstellen, das allgemeines Völkerrecht verdrängt – oder ob auch allgemeines internationales Recht und Menschenrechte parallel anwendbar sind. Diese Entscheidung könnte weitreichende Konsequenzen für die internationale Klimapolitik haben.
Schliesslich könnte das Gutachten als Präzedenzfall für zukünftige Verfahren dienen. Es bietet nicht nur Orientierung für den Umgang mit Klimafragen im internationalen Recht, sondern könnte auch als Blaupause für andere globale Herausforderungen wie Biodiversitätsverlust oder Umweltverschmutzung herangezogen werden.


Eine Zusammenfassung der Analyse sowie die Daten der Analyse stehen zum Download zur Verfügung. 


Hauptbild: Adobe Stock / Deemerwha studio

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