Leute - 20.12.2024 - 14:00
Geprägt haben ihn Franziskanermönche und seine Mutter, die fünf Kinder alleine grosszog. Und er hat seine Habilitation nie eingereicht, weil sie aus seiner Sicht zu wenig gut war: Christoph Frei, der seit 2005 an der HSG Politikwissenschaften und internationale Beziehungen lehrt, ist im akademischen Betrieb ein Exot – und dabei sehr populär: «Von Studierenden wird er geliebt», schrieb etwa das Studierendenmagazin prisma 2015. Mehrere Auszeichnungen, die er an der HSG für seine exzellente Lehre erhielt, unterstreichen das. Frei wird auch regelmässig von nationalen Medien interviewt und füllt mit seinen Veranstaltungen die Ränge der öffentlichen HSG-Vorlesungen. Nun wird Christoph Frei altershalber emeritiert – ein Interview.
Christoph Frei, Sie werden in einem Moment emeritiert, in dem die Welt von Krisen geprägt ist. Wie blicken Sie in die Zukunft?
In den 1990er-Jahren gab es die Überzeugung vom «Ende der Geschichte», den Glauben an eine weltweite Tendenz hin zu westlich-liberalen Demokratien. Davon ist heute kaum noch die Rede, es sind unruhige Zeiten. Auch nationalstaatliche Selbstbezogenheit ist wieder allgegenwärtig. Donald Trump ist kein Einzelfall. Schliesslich holen uns ungelöste Konflikte ein, wie das Beispiel Nahost zeigt. Aber ich will nicht dramatisieren. Geschichte ist offen.
Sie wuchsen in der Ostschweiz auf und haben lange im Ausland gelebt. Was hat Sie in Ihrem Leben geprägt?
Am stärksten wohl meine Mutter. Der Vater starb, als ich zwei Jahre alt war, die Mutter zog alleine fünf Kinder gross. Sie war unglaublich stark, ist allen Menschen mit Respekt begegnet. Im Alter von 12 bis 19 Jahren besuchte ich die Klosterschule in Appenzell, wurde dort von Franziskanermönchen unterrichtet. Wir lasen viel, thematisierten Philosophie und Geschichte, Griechisch lernte ich im Einzelunterricht. Von dieser breiten, soliden Grundausbildung profitiere ich bis heute. Dann ging es nach St.Gallen. Das Studium der Staatswissenschaften war (und ist noch heute) interdisziplinär, es verbindet Politik, Recht und Wirtschaft. Auch dieser Zugang zur Welt hat mich geprägt.
Wie ging es für Sie nach dem HSG-Studium weiter?
Mit dem Doktorat unter Alois Riklin. Dabei hielt ich mich zu Forschungszwecken im Ausland, vorab in den USA auf. Im Zeitraum 1990 bis 1995 kehrte ich an die HSG zurück, durfte erste Vorlesungen halten und fand Freude am lebendigen Austausch im Hörsaal. Für das Habilitationsprojekt, eine Geschichte der französischen Demokratie, ging es dann erneut ins Ausland.
Wohin gingen Sie?
Nach Paris. Von 1995 bis 2002 versenkte ich mich tief in die Archive. Am EHESS (École des hautes études en sciences sociales) traf ich auf den Historiker François Furet. Er erklärte die französische Geschichte mit unglaublicher Klarsicht. Die Habil habe ich nie eingereicht – sie schien mir unfertig, genügte den eigenen, überrissenen Ansprüchen nicht. Hier wartet ein Projekt, das ich gerne noch beenden will, auch wenn niemand darauf wartet. Nach Paris und einem dreijährigen Zwischenspiel in Budapest kam der Ruf, die Leitung des Studiengangs International Affairs an der HSG zu übernehmen. Ein gänzlich unerwartetes Glück: Obschon formal ohne Habil, durfte ich die Lehre wie auch den Studiengang prägend mitgestalten.
Was gefällt Ihnen daran, im Hörsaal zu stehen und im Austausch mit Studierenden zu sein?
Im Umgang mit Studierenden lernte ich, dass man auch in einem Hierarchieverhältnis den Austausch auf Augenhöhe pflegen muss, um die optimale Lernatmosphäre zu schaffen. Ich will ja, dass Studierende Fragen stellen, widersprechen. Das Miteinander ist bis heute bereichernd.
Was empfinden Sie nun bei Ihrem Abschied von der HSG?
Viel Dankbarkeit – gegenüber den Studierenden, die mir in diesen 20 Jahren viel gegeben haben, aber auch vis-à-vis der Universität, die neue Chancen und Räume bot. Unvergessen bleiben Anlässe und Moderationen mit Persönlichkeiten wie Kofi Annan, Niall Ferguson, Timothy Garton Ash oder Peter Sloterdijk – und Kaminfeuergespräche mit Bundesräten.
Was sind Ihre Pläne für die kommende Zeit?
Ab Januar verschwinde ich für acht Monate mehr oder weniger von der Bildfläche, besuche Länder und Freunde. Im Herbstsemester 2025 geht es mit einem kleinen Pensum zurück in die Lehre. Im St.Gallen Collegium, einer Plattform für interdisziplinären Austausch, werde ich überdies die dort Forschenden in Gruppenprozessen unterstützen. Auch darum verspüre ich heute nicht Trauer, sondern Freude. Ich darf meine Leidenschaft weiterhin leben.
Bilder: Hannes Thalmann