Leute - 14.11.2024 - 11:00
«Da ka jeda schaffe», habe er gesagt, erinnert sich Roger Coray. Er und einige Kollegen hatten am Stammtisch die Idee ausgebrütet, sie würden den Berlin Marathon 2007 laufen. Sechs von ihnen reisten fast ohne Training nach Berlin. Drei davon schliefen nach einer Partynacht aus, doch der damals 40-Jährige Coray rannte ins Ziel – in einer Badehose, weil er keine Sportshorts besass und mit frisch operiertem Schlüsselbeinbruch.
Von da an war er angefressen. Er absolvierte weitere Marathons, wurde schneller und schaffte 2009 schliesslich seinen ersten Ironman in Zürich: 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer auf dem Rennvelo, zum Abschluss einen Marathon laufen. «Ich wollte beweisen, dass ein Amateur wie ich mit Willenskraft und ohne seinen Lebensstil umzukrempeln einen Ironman meistern kann», sagt der heute 57-Jährige. Für unzählige Trainingsstunden hätte auch die Zeit gefehlt. Coray arbeitet seit 16 Jahren Vollzeit im internen Postdienst der HSG und ist zweifacher Vater.
Coray trägt die schwarzgrauen Haare lang, bei seinen Läufen zieht er konsequent ein schwarzes Shirt seines Töffclubs Falcons MC an, bei denen er seit 37 Jahren Mitglied ist. Er ist damit optisch ein Exot in der Läuferszene. Zudem hat er bis heute weder eine Pulsuhr noch einen Trainingsplan. Doch seine Leistungen sind beachtlich: In den letzten Jahren kamen extreme Ultramarathons dazu, bei denen Coray beispielsweise 2019 in Wales durch menschenleere Gegenden 315 Kilometer und 16'000 Höhenmeter in fünf Tagen rannte und kletterte. «Ich bekomme heute noch einen Hungerast, wenn ich daran zurückdenke.» Und im August 2024 schaffte er zum zweiten Mal den «Crossing Switzerland»-Trail: 430 Kilometer und 22'000 Höhenmeter von Vaduz nach Montreux.
Woher nimmt Coray seine mentale Stärke? «Ich bin halt ein Rheintaler», sagt er lachend und spielt auf das Klischee an, das den Bewohnern des Tals in der restlichen Ostschweiz anhaftet: Stur seien sie, ein wenig eigen, wilde Kerle, Coray spricht von «Highlandern».
Er wuchs im Rheintaler Städtchen Altstätten, wo er heute noch lebt, mit 10 Geschwistern in einfachen Verhältnissen auf. «Meine Kindheit war gut, aber sie hat mich auch hart gemacht. Am Wochenende arbeitete ich im Garten mit, im Winter musste ich Marroni braten und extern beim Zügeln helfen. Ich hatte selten frei und Fleisch gabs einmal pro Woche.»
Er macht eine Lehre bei der Post und fuhr danach jahrelang mit Post-Zugwagen durch die ganze Schweiz. «Das waren 12-Stunden-Schichten während denen ich schwer schuftete, Säcke und Pakete ein- und auslud.» Manchmal fuhr er in offenen Wägen mit, mit denen früher Vieh transportiert wurde. «Im Winter wars da drin unglaublich kalt», erinnert er sich. Auch das: Lebensschule und Erfahrung, von der er zehren konnte, als er während «Crossing Switzerland» stundenlang durch den eiskalten Regen lief.
«Mein Ziel ist es, den Lauf zu finishen. Ich renne im Wohlfühltempo. Ich habe einfach schon zu viele Läufer gesehen, die auf den ersten Kilometern zu schnell sind und dann aussteigen», sagt Coray, der von seinen Freunden «Rats» genannt wird. «Ratten sind zäh», sagt er zur Erklärung und lacht.
Aber natürlich renne er nicht um des Leidens willen. «Beim Laufen bin ich ganz im Moment, ich bin in der Natur, ich löse konkrete Probleme: Was ziehe ich an, was esse ich.» Das sei befreiend. Zudem seien durch das Laufen enge Verbindungen entstanden. «Wenn man miteinander an einem Lauf untendurch musste, schafft das eine spezielle Verbindung. Das sind einzigartige Freundschaften.»
Neben seinem Läuferleben ist Coray Pöstler geblieben: Nach 25 Jahren bei der Post organisiert er seit 16 Jahren den Postdienst an der HSG. Im Zuge der Digitalisierung und Reorganisation ist das Team geschrumpft und Coray mittlerweile allein unterwegs. «Ich mag es, an der HSG als Pöstler verschiedenste Leute zu treffen. Allgemein bin ich gerne unterwegs», sagt er. Beeindruckend sei auch das Wachstum der HSG, das er miterlebt hat. «Ich merkte es vor allem an öfter wechselnden Adressen, denen ich nachspüren musste», sagt er und lacht. Er verteilt und holt intene und externe Post auf dem Hauptcampus und auch an den Standorten in der ganzen Stadt.
Welche Ziele hat der Extremsportler noch? Beim Berlin Marathon ist er bereits 14 Mal ins Ziel gelaufen, zuletzt im September 2024. 2025 reist er mit seiner Familie nach Asien und will unter anderem auf den legendären japanischen Fuji rennen. Und im gleichen Jahr steht auch der Transylvania 100k auf dem Programm – ein Ultralauf durch die rumänische Wildnis, bei dem man auch Bären begegnen kann. «Da muss man einfach schneller sein als der Läufer hinter einem», sagt Coray und lacht.