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Hintergrund - 14.08.2023 - 11:00 

Reise nach Odessa - Professor James Davis über seine Ukraine-Reise

Im Vorfeld des NATO-Gipfels in Vilnius in diesem Sommer reiste James Davis, Professor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen, in die Ukraine. In seinem Artikel berichtet er über die Herausforderungen, denen er begegnete, als er die Einladung des ukrainischen Parlaments annahm. Von James W. Davis.

Im Vorfeld des NATO-Gipfels in Vilnius bei dem die weitere Unterstützung und sogar eine mögliche Mitgliedschaft der Ukraine auf der Tagesordnung steht, folgte ich der Einladung eines ukrainischen Parlamentariers und machte mich auf den Weg nach Odessa. Zurzeit ist eine Reise zu diesem alten Tartarenort am Schwarzen Meer kein einfaches Unterfangen. Direkte Flugverbindungen gibt es nicht. Mit dem Zug wäre eine Verbindung über Kiew möglich, würde aber eine Ewigkeit dauern. Mein Gastgeber schlug einen Übergang an der Grenze zwischen Moldawien und der Ukraine vor. Hierfür musste ich mich nach Palanka begeben.

Von Moldawien in die Ukraine

Als eines der kleinsten europäischen Länder ist Moldawien derzeit geopolitisch von großer Bedeutung. Seit 1990 wird der Ostteil des Landes, Transnistrien, von Separatisten beherrscht.  Das Gebiet steht unter russischem Einfluss. Zwischen ein- und anderthalb Tausend russische Soldaten sind dort stationiert und Transnistrien beheimatet eines der grössten Depots alter russischer Munition. Als eine Brutstätte des Waffenschmuggels und anderer internationaler krimineller Aktivitäten benutzten Putins Geheimdienste Transnistrien als Stützpunkt für ihre Bemühungen, die prowestliche demokratisch gewählt Regierung in Chisinau zu destabilisieren. Nach einem Flug über Wien nach Chisinau würde der Weg nach Palanka entlang der unsichtbaren Grenze zu Transnistrien verlaufen.  Folglich war ich einigermassen beruhigt, als ein befreundeter ehemaliger Ministerpräsident aus Moldawien mir eine sichere Fahrt nach Palanka anbot. Nach einigen Telefonaten zwischen den Wachstationen der beiden Seiten, durfte ich nun zu Fuss in die Ukraine gehen.

Der Mut von Odessa

Der Weg nach Odessa erinnert an viele instabile Orte dieser Welt. Es gibt einige militärische Kontrollen, wo Papiere kontrolliert und einige Fragen gestellt werden. Aber ansonsten verlief die Reise ohne Probleme. Tatsächlich war die Reise nach Odessa im Vergleich zu den drei Tagen, die ich dort verbrachte, entspannt. Denn gleich nach meiner Ankunft war mein Programm voll. Es gab Besuche in Gemeindezentren, wo Frauen an Tarnnetzen für die Front arbeiteten, bei durch den Krieg verwaisten Kindern, bei verwundeten Soldaten in einer Rehabilitationsklinik, in einer Ausstellung von Krieg inspirierter Kunst und bei einer Aufführung patriotischer Musik im berühmten Opernhaus von Odessa. Ich habe mich besonders gefreut, einen Vortrag an der Odessa National Economics University halten zu dürfen und die Studenten und Kollegen kennenzulernen. Unter schwierigsten Bedingungen setzten Sie ihren Unterricht und ihre Forschung fort.

Es ist das Bemühen der Bürgerinnen und Bürger Odessas, trotz regelmäßiger Drohnen- und Raketenangriffe und der Kämpfe entlang der Front weniger als 200 km östlich, einen Alltag zu schaffen, was mich am meisten beeindruckte. Ich frage mich, ob die Aufrechterhaltung des täglichen Lebens selbst ein Ausdruck des Willens und der Verpflichtung dieser illegalen und barbarischen Aggression zu widerstehen ist.

Einen Eindruck vom Willen und der Tapferkeit der Ukrainer habe ich bereits in meiner ersten Nacht im Hotel bekommen. Um 01:56 Uhr wurde ich sowohl von den Luftsirenen draussen als auch von der App geweckt, die ich auf mein Smartphone heruntergeladen hatte. Aus meinem Handy hörte ich: «Luftalarm! Geh in den Schutzraum! Deine Selbstüberschätzung ist deine Schwäche!» In einer Turnhose und einem T-Shirt machte ich mich auf den Weg zum Luftschutzkeller des Hotels. Außer einer älteren Ukrainerin war ich die einzige Person dort und irgendwann stellte ich fest, dass sie auch weg war. Doch blieb ich bis mir meine App mitteilte, dass es nun sicher sei, den Luftschutzraum zu verlassen. Es war 04:22 Uhr morgens und die Sonne kam heraus.

Später, auf dem Weg zum Frühstück, fragte ich die eher schüchterne junge Dame an der Rezeption, warum ich allein im Luftschutzkeller war. Wo waren die anderen Hotelgäste? «Wir sind Ukrainer», sagte sie. «Wir haben keine Angst vor russischen Bomben.»

Ganz gleich, ob es sich um die dreizehn Grenzsoldaten handelte, die sich weigerten, die Schlangeninsel einem Flaggschiff der russischen Marine zu übergeben, oder um den Soldaten, den ich traf, der durch eine Landmine ein Bein verloren hatte und sich nichts sehnlicher wünschte, als an die Front zurückzukehren, oder um die normalen Leute, die ihren Alltag in Odessa aufrechterhalten: Die Ukrainer haben in ihrem Kampf um die Verteidigung ihres Landes Heldenmut bewiesen. Als ich auf dem Heimweg über die Grenze in Richtung Moldawien zu Fuss ging, fragte ich mich, ob der kollektive Westen diesen Mut erwidern würde.

James W. Davis

Erstveröffentlichung des Textes im Münchner Merkur, Juli 2023

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