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Hintergrund - 21.11.2023 - 13:30 

Choix Goncourt de la Suisse: HSG-Studierende werden Teil des wichtigsten Literaturwettbewerbs Frankreichs

Kaum ein Land ist so erfolgreich in der Förderung zeitgenössischer Literatur wie Frankreich. HSG-Studierende lernten am Fallbeispiel der Schweizer Version des renommierten Buchpreises, «Choix Goncourt de la Suisse», wie im Literaturbetrieb die Fäden gezogen werden.
HSG-Studierende lernten am Fallbeispiel der Schweizer Version des renommierten Buchpreises, «Choix Goncourt de la Suisse», wie im Literaturbetrieb die Fäden gezogen werden.

«Ich möchte bei unseren Studierenden Neugier und Leidenschaft für das Lesen zeitgenössischer literarischer Werke wecken. Es war mir darum ein grosses Anliegen, HSG-Studierende an der Choix Goncourt de la Suisse teilnehmen zu lassen und ein Kursangebot zu entwickeln, welches es den Teilnehmenden ermöglicht, sich in ein Buch zu vertiefen und persönlich an der Lektüre zu wachsen», sagt Prof. Dr. Anna Elsner, HSG-Professorin für Französische Literatur mit dem Spezialgebiet der Medical Humanities. Ganz im Sinne eines ihrer Lieblingsschriftsteller, Marcel Proust, der den Prix Goncourt 1919 erhielt, erfahren Studierende in einem neu konzipierten Kurs an der HSG die Literatur als «Spiegel der Seele». Sie lernen viel über zeitgenössische Werke in französischer Sprache. Bei deren Einordnung nach Bewertungskriterien lernen sie zugleich viel über sich selbst und setzen sich mit der Auswahl Studierender aus 35 anderen Ländern und Kulturen auseinander.

Die Idee hinter dem Preis: Geschichte des Prix Goncourt

Kurze Reprise: Der Prix Goncourt wird seit 1903 jeweils im November, von der 1900 gegründeten Académie Goncourt vergeben und zeichnet das beste erzählerische Werk aus, das im laufenden Jahr in französischer Sprache erschienen ist. Seine Verleihung ist das wichtigste Ereignis der sogenannten «rentrée littéraire», dem Erscheinen neuer Werke ab Mitte August. Obwohl nur mit symbolischen 10 Euro dotiert, ist der Prix Goncourt bei den Autor:innen überaus begehrt, weil er starken Einfluss auf den Verkaufserfolg eines Werkes hat. Benannt wurde der in Paris verliehene Preis nach den Schriftsteller-Brüdern Edmond und Jules de Goncourt. Die Jury besteht aus zehn Schriftsteller:innen. Neben der Würdigung von Romanen gibt es auch Goncourt-Preise für Lyrik, Roman-Erstlinge, Kurzgeschichten sowie für Biografien. Studierende aus Polen lancierten im Jahr 1998 die Idee, die «Goncourt-Liste» an Universitäten zu lesen und selbst eine Jury zu bilden. Seither unterbreiten Studierende aus immer mehr Ländern der Académie Goncourt ihre Auswahl.

Die Studentenjury mit der französischen Botschafterin Marion Paradas und dem Präsidenten der Académie Goncourt, Didier Decoin.

Raum für Selbstreflexion und Einblick in das «Literatur-Business»

An der «Choix Goncourt de la Suisse 2023» sind Studierende von sieben Universitäten beteiligt – darunter erstmals auch der HSG. Neun Studierende lasen in dem eigens für den Literaturwettbewerb gestalteten Kurs gemeinsam alle 16 Bücher der ersten Goncourt-Liste 2023, analysierten die Werke und lernten, ihre Favoriten überzeugend zu verteidigen. An den beiden «Délibérations» hatten sie Gelegenheit, ihre Buchauswahl mit anderen Studierenden zu besprechen. Anna Elsner freut sich, ihre Begeisterung für das Lesen mit Studierenden der Wirtschaftsuniversität in der Buchstadt St.Gallen zu teilen. «Gerade zeitgenössische Literatur kann jungen Menschen ganz neue Perspektiven eröffnen – sie schafft Raum für Selbstreflexion. Wer bin ich, welchen Weg will ich einschlagen, wie kann ich der Gesellschaft dienen? All diese Fragen stellen Romane. Es ist wichtig, Studierenden mit Business-Kenntnissen die Gelegenheit zu geben, sich in einem Kurs auch systematisch mit Literatur und Kulturförderung auseinanderzusetzen.» 

Flipped Classroom: Für persönliche Werte und Überzeugungen einstehen

Anna Elsners Kollege Dr. Reto Zöllner leitet den Kurs. Die kleine Gruppe von neun Studierenden war ideal, um sich in die Romanthemen zu vertiefen und die Persönlichkeit der Kursteilnehmer:innen ins Zentrum zu stellen. «Wir haben uns an der Idee des Flipped Classroom orientiert: Im Mittelpunkt standen die Studierenden selbst und ihre Entwicklung.» Der HSG-Lehrbeauftragte brachte den Wirtschaftsstudierenden in kurzer Zeit bei, die Werkzeuge für eine solide Literaturanalyse geschickt anzuwenden, machte sie mit den Trends des französischen Buchmarktes vertraut und schliff an der Jury-Kompetenz schlechthin: Rhetorik und Argumentation. «Je persönlicher ein Plädoyer für ein Werk ausfällt, desto überzeugender wirkt es.» 

«Ich fand es grandios, zu sehen, wie sich die Studierenden für ein literarisches Werk stark machen und dabei für ihre persönlichen Werte und Überzeugungen einstehen.»
Anna Elsner, Professorin für Französische Literatur an der HSG

Reto Zöllner gefiel, wie rasch sich die Studierenden in den Blockseminaren von je vier Stunden in die Aufgaben einer Literatur-Jury einarbeiteten. «Es ist nicht leicht, die entscheidenden Kriterien für die Auswahl eines Werkes zu definieren, da so viele Faktoren eine Rolle spielen: Die Originalität des Werkes; das Thema, mit dem ein Werk eine Diskussion in Gang bringen kann; die Rolle des Verlages auf dem Buchmarkt – all dies muss genau untersucht werden, um eine solide Auswahl treffen zu können», sagt der Dozent.

«Spannend fand ich, dass Studierende der HSG ganz neue Perspektiven in die Auswahl der Kriterien einbringen und so die Argumentation und die kritische Auseinandersetzung mit den gelisteten Romanen in der Schweiz bereichern.»
Reto Zöllner, Dozent an der HSG

Neugier für den Literaturbetrieb geweckt

Ein Kursteilnehmer ist Léo Ferrand. Er hat an der ersten «Délibération», der Auswahl von fünf Büchern aus den gesamten 16, in Zürich teilgenommen. Der Kurs ermöglichte ihm, sein Wissen über die Buchbranche zu vertiefen und sich mit anderen literaturbegeisterten Studierenden auszutauschen. «Grandios an der Jury-Arbeit fand ich, dass ein Buchpreis Themen zu setzen vermag und Menschen dazu anregt, mehr literarische Werke zu lesen.» Léo Ferrand war begeistert von der Vielfalt der Standpunkte, die bei den Treffen mit anderen Studierenden aus der ganzen Schweiz zur Sprache kamen – ein Spiegel der pluralistischen Wissenschaftslandschaft. Auch die Zusammenarbeit mit der französischen Botschaft in Bern gefiel ihm: «Wir fühlten uns unterstützt, aber zugleich sehr frei in der Gestaltung des Entscheidungsprozesses innerhalb der Jury.» Sein Fazit: «Bei der Jury-Arbeit habe ich Lust bekommen, später im Literaturbetrieb tätig zu sein. Mir gefällt der Gedanke, dass ein Verlag Begegnungen zwischen einem Buch und einer Leserschaft schaffen kann; dass er es vermag, sich über die Zwänge des Marktes hinwegzusetzen, um anspruchsvolle oder sehr originelle Texte zu verbreiten.»

Vision: Die Choix Goncourt de la Suisse in die Buchstadt St.Gallen holen

Frankreich engagiert sich stark für zeitgenössische Literatur. «Der Prix Goncourt ist einer der renommiertesten Literaturpreise Europas. Wer hier hinter die Kulissen schauen darf, erfährt auch viel über neue Geschäftsmodelle des Literaturbetriebs und der Kulturförderung», sagt Reto Zöllner. Sein Lieblingswerk der diesjährigen Auswahl ist Antoine Sénanques «Croix de cendre». Anna Elsner begeistert sich für «Proust, Roman familial» von Laure Murat. Und Léo Ferrands Favorit ist «L'Échiquier» von Jean-Philippe Toussaint. Allen gemeinsam ist eine Vision für die Choix Goncourt de la Suisse: «Es wäre grossartig, wenn wir den Festakt des Literaturpreises in das Herz der Buchstadt St.Gallen holen könnten: Preisverleihung in der St.Galler Stiftsbibliothek. Auch lesebegeisterten Bürger:innen würde ich gern ermöglichen, die prämierten Werke mit den Studierenden und Dozierenden besprechen zu können. Das Projekt Choix Goncourt de la Suisse an der HSG hat noch viel Entwicklungspotential», sagt Anna Elsner.

Preisverleihung in Bern

Am 21. November um 18.50 Uhr stand die Wahl der Choix Goncourt de la Suisse in der französischen Botschaft in Bern fest: Auf Platz 1 landete das Werk der bereits mit dem Prix Femina ausgezeichneten Autorin Neige Sinno «Triste tigre» – der Favorit der HSG-Delegation. An der traditionellen Preisverleihung in Bern waren Botschafterin Marion Paradas und der Präsident der Académie Goncourt, Didier Decoin, zugegen. In ihrem dritten Roman «Triste tigre» greift die Autorin Neige Sinno mit seltener Feinfühligkeit und Kraft ein universelles und schmerzhaftes Thema auf: Inzest. Mit ihrer autobiografischen Erzählung teilt Sinno nicht nur ihre Geschichte, sondern erweitert auch den Dialog über sexuelle Übergriffe, ein Thema, das Geschlechter und Grenzen überschreitet. Die Studierenden-Jury lobte den Mut der Autorin, sich diesem schwierigen Thema zu stellen. Die Auswahl begründete einer der Kursteilnehmer von Reto Zöllner, Henry Plitt, mit den Worten: «Wir finden, dass das Werk von Sinno heraussticht. Ihr Text wirkte grundlegend innovativ auf uns, indem er es schafft, Widerspruch und Angst exakt zu beschreiben und zugleich den Schrecken zu überwinden.» 

Liste des Choix Goncourt de la Suisse 2023: 
Choix Goncourt de la Suisse 2023 – Chaire de littérature et culture française | ETH Zurich

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