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Campus - 20.11.2025 - 11:00 

Zwischen Kopf und Körper: Ein Gespräch über Lernen in Bewegung

Ein Interview mit Jelena Tošić und Arno Plass über das Seminar Cultures of Movement und die Frage, was passiert, wenn Lernen nicht nur im Kopf stattfindet, sondern durch Bewegung und körperliche Erfahrung. Ein Beitrag von HSG-Studentin Johanna Rinderer.
Zwischen Kopf und Körper: Lernen in Bewegung

Tango an der Universität St.Gallen? Was zunächst überraschend klingt, ist Teil eines innovativen Lehrformats, das Theorie, Bewegung und gesellschaftliche Reflexion miteinander verbindet. Im Blockseminar Cultures of Movement – (Im)Mobility, Affect and the Tango Laboratory erforschen Studierende, wie körperliche Erfahrung neue Zugänge zu Mobilität, sozialer Interaktion und Leadership eröffnet. Die beiden Dozierenden, Prof. Dr. Jelena Tošić, Professorin für Migrationsforschung, und Arno Plass, Kulturwissenschaftler und Tanzforscher, erklären, wie Lernen in Bewegung funktioniert.

Jelena Tošić, Arno Plass, wer sind Sie und wie ist Bewegung und embodied learning in Ihre Lehre und Forschung hineingeraten?

Plass: Ich habe einen interdisziplinären Hintergrund, der sich über Sprachenstudium, Philosophie, Gender Studies und Kulturwissenschaft erstreckt. Gleichzeitig hat mich das Thema Bewegung mein Leben lang begleitet – erst privat, dann zunehmend forschend. Irgendwann habe ich gemerkt: Wie wir denken, folgt denselben Gewohnheitsmustern wie wir uns bewegen. Das hat mich in die Richtung des «Embodied Learning» geführt.

Tošić: Ich bin Sozial- und Kulturanthropologin und forsche, unter anderem, zu Migration und Mobilität. Gleichzeitig habe ich seit vielen Jahren einen starken Bezug zu Körper- und Bewegungspraktiken – von Yoga, Tai-Chi bis zum Tango. Das Interesse an innovativen Lehrformaten an der HSG hat mich auch dazu inspiriert das Lernen durch Bewegung in meine didaktische Praxis zu integrieren.

«Wir möchten Denkgewohnheiten aufbrechen, Denken ist immerhin ein körperlicher, materieller Prozess.»
Arno Plass

Was möchten Sie den Studierenden mit diesem Kurs vermitteln?

Plass: Für uns ist wichtig, dass Studierende erleben, dass es nicht nur eine Perspektive gibt, aus der man Dinge beobachten und verstehen kann. Jelena und ich denken von unterschiedlichen disziplinären Positionen aus und wir bringen diese Differenzen bewusst in die Lehrveranstaltung ein. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, das produktiv ist: Wir diskutieren Begriffe, Haltungen und Zugänge, manchmal auch kontrovers, aber nicht um recht zu haben, sondern um voneinander zu lernen. Das zeigt den Studierenden, wie sehr der Austausch und das Bewegen zwischen verschiedenen Sichtweisen das Denken erweitert und, dass die eigene Position oft zu eng ist.

Tošić: Genau. Wir arbeiten im Kurs bewusst mit verschiedenen Zugängen und fachlichen Hintergründen und unterstützen so auch die Studierenden dabei kollaborativ zu denken.  Mobilität und Migration sind zentrale Themen unserer Gegenwart und bewegen, wie auch, polarisieren Gesellschaften stark. Zugleich ist Bewegung keine gerecht verteilte «Ressource» – etwa wer sich wie bewegen kann oder wer welche Grenzen überschreiten darf. Die Vielfalt an Perspektiven, die wir im Kurs aufgreifen ermutigt die Studierenden, ihren eigenen Zugang zu entwickeln. Das zeigt sich auch in den Gruppenarbeiten, deren Themen sie selbst entwickeln: Jedes Jahr entstehen sehr unterschiedliche Schwerpunkte, die sichtbar machen, wie vielfältig Mobilität und Bewegung verstanden werden können. Genau diese Offenheit möchten wir fördern, natürlich in einem sicheren und respektvollen Lernsetting.

«Wir verwenden Elemente des Tangos, weil sie sehr gut geeignet sind, gesellschaftliche, soziale oder wirtschaftliche Dynamiken sichtbar zu machen.»
Prof. Dr. Jelena Tošić

Was passiert beim «Embodied Learning» konkret? Wie verändert sich Wissen, wenn es im Körper, und nicht nur im Kopf entsteht?

Plass: Wir möchten Denkgewohnheiten aufbrechen, Denken ist immerhin ein körperlicher, materieller Prozess. Wenn Studierende sich in Bewegung begeben, merken sie sofort, wie sehr der Körper von Routinen geprägt ist und wie schwer es fällt, neue Wege zu finden. Das ist eine direkte Erfahrung, die sich auf Denkprozesse übertragen lässt. Statt sofort «fertige» Gedanken zu produzieren, dürfen sie im Seminar experimentieren, irritiert sein, neue Ansätze ausprobieren. Das ist ungewohnt, aber unglaublich produktiv. Zusätzlich spüre ich beim Tanzen unmittelbar, wo meine Grenzen liegen und wie ich kommuniziere – oder nicht. Im Tango bin ich nie allein, sondern immer in Relation. Diese Erfahrung verändert, wie ich über Führung, Zusammenarbeit oder Konflikte nachdenke.

Tošić: Und es ist uns wichtig zu betonen: Das ist kein Kurs über Tango. Tango ist das Medium, das wir als Lehrmittel einsetzen. Wir verwenden Elemente des Tangos, weil sie sehr gut geeignet sind, gesellschaftliche, soziale oder wirtschaftliche Dynamiken sichtbar zu machen. Zum Beispiel interessieren sich viele Studierende für das Verhältnis von «Leading» und «Following». Das klingt zunächst einfach, aber im Tango ist das eine ständige Aushandlung. Was bedeutet es überhaupt zu führen? Was bedeutet es zu folgen? Kann man das wirklich klar trennen?

«Der Kurs hat mir gezeigt, dass wir in jeder Situation nicht nur kognitiv, sondern immer auch körperlich präsent sind und, dass authentische Führung erst entsteht, wenn Haltung und Verhalten übereinstimmen.»
Kursteilnehmerin Valerie Raiss

Warum gerade Tango und nicht zum Beispiel Salsa oder Contemporary Dance?

Plass: Tango bietet ein starkes Vokabular, das gleichzeitig offen genug ist, um zu improvisieren. Wir interessieren uns nicht für Figuren, sondern für das gemeinsame Entwickeln von Bewegung. Nach jedem Schritt kann sich alles wieder verändern, das ist eine wunderbare Analogie für soziale, politische und wirtschaftliche Prozesse.

Tošić: Und Tango hat eine komplexe Geschichte: Er ist ein Produkt von Migration, sozialer Mobilität und kulturellem Austausch. Für Studierende ist das ein idealer Hintergrund, um über Mobilität, Identität und Machtverhältnisse nachzudenken.

Was können HSG-Studierende aus dem Kurs für die spätere berufliche Praxis mitnehmen?

Tošić: Sehr viel. Abgesehen von dem Erlernen und Reflektieren neuer Bewegungsformen, ist das zentrale Element des Kurses, dass die Studierenden in Gruppen an selbstgewählten Themen arbeiten; bspw. vom «Movement of Capital» bis zu «Non-Human Mobility» oder «Social Movements». Dabei verbinden sie makroökonomische und politikwissenschaftliche Perspektiven mit Alltagsbeobachtungen und körperlichen Erfahrungen und Dimensionen gesellschaftlicher Prozesse. Dieses analytische Hin- und Herwechseln der Ebenen, anders gesagt, eine multiskalare Perspektive, ist eine wichtige Kompetenz, egal ob in Wirtschaft, Politik oder Beratung.

Plass: Tango funktioniert nur, wenn beide Personen Verantwortung übernehmen, zuhören, reagieren, Vertrauen aufbauen. Diese Art der gemeinsamen Gestaltung ist etwas, das die Studierenden sofort mit Teamarbeit, Führung oder Kreativität verbinden können.

Johanna Rinderer ist Masterstudentin im Programm «Management, Organisation und Kultur» an der Universität St.Gallen.

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