Campus - 05.06.2025 - 14:30
Nur einmal sieht man in «Eile der Zeit» kurz ein Smartphone, als eine junge Frau auf Tinder mögliche Datingpartner betrachtet und in Sekundenbruchteilen wegwischt («Nein… Nein… Nein… Hm… Ja… Nein…») Ansonsten dominieren analog-archaische Dinge wie Vinylplatten, Zigaretten, Bialetti-Kaffeekannen, Notizbücher und eine alte Druckmaschine: Der Kurzfilm könnte auch in den 1980er-Jahren spielen, doch er wurde im Sommer 2024 in St.Gallen gedreht.
Der nostalgische Touch ist kein Zufall: «Ich will damit zum Nachdenken über die Digitalisierung anregen. Ihr Einfluss auf unser Sozialleben ist oft negativ. Wir sind mehr unter Zeit- und Präsentationsdruck, lassen uns weniger auf den Moment ein», sagt Paul Grivelet, Regisseur des Films und HSG-Student. Der 23-Jährige schliesst derzeit sein Bachelorstudium mit einer Arbeit zur Zukunft des Arthouse-Films ab. «Ich hatte schon früh den Wunsch, selbst Filme zu drehen. Um einen Film erfolgreich zu machen, muss man den Filmmarkt so verstehen und nutzen, dass er sowohl beim Publikum kommerziellen Anklang findet als auch Anerkennung gewinnt; ohne dabei seine kulturelle Integrität zu verlieren.» Das sei ein Grund gewesen, weshalb er fürs Wirtschaftsstudium an die HSG gekommen sei. Neben dem Studium arbeitet Grivelet beim Filmverleih DCM, der auf Arthouse-Filme spezialisiert ist.
St.Gallen, seiner Heimat für vier Jahre, hat Grivelet nun mit dem 20-minütigen «Eile der Zeit» ein filmisches Denkmal gesetzt: Die Schauspieler:innen sprechen St.Galler Dialekt, bekannte Plätze wie Drei Weieren wechseln sich mit Fahrten im Stadtbus ab, dazu kommen ein Kiosk im Quartier Linsebühl oder der einst legendäre Plattenladen Bro Records. «Viele meiner St.Galler Bekannten sagen, ich hätte ein romantisches Porträt von St.Gallen geschaffen», sagt Grivelet, der aus Bordeaux stammt. Es sei ihm aber nicht um die Idylle gegangen, «ich habe einfach viele Plätze gefilmt, an denen auch ich am liebsten war», sagt der Filmemacher, der nun in Zürich lebt. Sein Kurzfilm feierte diesen Mai im St.Galler Kinok Premiere und soll nun auf verschiedenen Festivals gezeigt werden.
Der Film folgt der jungen Frau Jara während eines Tages. Zu Beginn begegnet sie im Traum einem unheimlichen Wesen, der Sandfrau, die Jara eine Tagträumerin nennt. Später lernt Jara im Bro Records einen jungen Mann namens Ziggy – gespielt von Grivelets Zwillingsbruder Quentin – kennen. Er lädt sie auf ein Treffen am späteren Abend ein. Am Nachmittag hilft Jara in der Werkstatt des St.Galler Künstlers Martin Amstutz aus, der mit einer historischen Druckerpresse arbeitet. Zwischendurch laufen im Radio Nachrichten, deren einziger Inhalt darin besteht, dass es in St.Gallen nun zehn Tage lang regnen werde. Plötzlich merkt Jara, dass sie zu spät ist für ihr Date, und sie macht sich auf den Weg – am Schluss wartet der Film mit einer Pointe auf, die wohl viele St.Galler:innen auch schon erlebt haben. Eine Geschichte hinter dem Film ist, dass Regisseur Grivelet Jara Wammes, wie die Frau auch im richtigen Leben heisst, per Zufall in St.Gallen kennengelernt hatte – auch hier bleibt der Film nahe an der Realität.
Grivelet hat viel Leidenschaft in sein Filmprojekt gesteckt. Das Budget von 5000 Franken stemmte er alleine - unter anderem mit Geld, das er von seiner Grossmutter geerbt hatte. Ihr widmet er den Film im Vorspann. «Wir haben alles in drei Tagen gedreht, was eine sehr enge Zeitplanung nötig machte.» Grivelet bediente die Kamera und war Regisseur. «Beides gleichzeitig zu machen war herausfordernd und ich habe in diesen drei Tagen sehr viel gelernt», sagt er. Einzig bei Ton und Licht wurde er von zwei Profis unterstützt. «Das restliche Team, inklusive der Schauspieler:innen, bestand aus Laien. Sie alle waren sehr wichtig für den Erfolg des Projekts.»
Ansonsten konnte er auf Unterstützung an der HSG sowie in St.Gallen zählen: So vermittelte ihm die emeritierte HSG-Professorin Yvette Sanchez wichtige Kontakte. Mitstudierende und St.Galler Bekannte übernahmen kleine Rollen im Film oder Aufgaben rundherum. Ein grosser Teil seines Netzwerkes entstand, weil Grivelet während zwei Jahren Präsident des studentischen Vereins Pro Arte war. Dieser will den Zugang zu Kunst fördern und ist einer von rund 140 studentischen Vereinen an der HSG. «Ich habe in dieser Zeit viele interessante Menschen in- und ausserhalb der HSG dank ProArte kennengelernt», sagt er. Allgemein sei die HSG ein Ort, die kreativen Menschen viele Gelegenheiten gebe, etwas zu bewirken.
Seine eigene Zukunft nach dem Bachelorabschluss ist derzeit noch offen – sein Traum sei es, irgendwann als Regisseur Filme zu drehen. Aber auch andere Funktionen in der Filmbranche interessierten ihn. Grivelet, so scheint es, will sich selbst bewusst nicht von der Eile der Zeit mitreissen lassen.