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Forschung - 21.08.2025 - 13:00 

Zwei HSG-Soziologen spüren Themen unter dem Radar nach

Von Cannabiskonsum bis Post-Apartheid: Das Soziologie-Kollektiv «Unexplored Realities» der HSG widmet sich Themen, die in Gesellschaft und Wissenschaft oft übersehen werden. Aktuell ist ein Dokfilm in den Kinos, den sie initiiert haben und 2026 starten die Soziologen Versuche zu Cannabiskonsum.
Die HSG-Soziologen Florian Elliker und Niklaus Reichle erforschen wenig beleuchtete Themen.

«Wir sind ständig auf Empfang, um Forschungsthemen zu erkennen – auch in unserem privaten Alltag», sagt Florian Elliker. Er und Niklaus Reichle sind Soziologen an der HSG und bilden das Forschungskollektiv «Unexplored Realities» am Seminar für Soziologie. Sie erforschen Themen, die im Alltag, in den Medien und den Sozialwissenschaften wenig behandelt werden – oder suchen neue Perspektiven auf breit diskutierte Themen.

Einen neuen Blick will «Unexplored Realities» auch auf Cannabis werfen: 2026 will «Unexplored Realities» in den Kantonen St.Gallen und Tessin Studien durchführen, bei denen mehrere tausend Studienteilnehmende legal Cannabis kaufen können. Ähnliche Versuche liefen oder laufen bereits in Zürich, Lausanne und weiteren Schweizer Städten. Der Bund begleitet die Versuche und erhofft sich davon Erkenntnisse für Legalisierung von Cannabis. «Uns interessiert zudem insbesondere, wie und warum Menschen Cannabis konsumieren, die das gut mit ihrem Privat- und Berufsleben vereinbaren können», sagt Elliker. Die beiden Soziologen sprechen vom «gelingendem Konsum». 

«Die Wissenschaft hat sich bisher auf problematische Aspekte des Cannabiskonsums konzentriert. Uns interessiert, wie die rund 80 Prozent unproblematischen Konsumenten handeln.»
Niklaus Reichle, HSG-Soziologe

80 Prozent konsumieren unproblematisch – wie schaffen sie das?

Die Wissenschaft habe sich bisher auf problematische Aspekte des Cannabiskonsums konzentriert, sagt Reichle. «Dabei haben rund 80 Prozent der Konsumierenden einen unproblematischen Umgang mit der Substanz. Wir wollen herausfinden, wie sie ihren Konsum gestalten.» 

«Wir bewerten dabei nichts. Unsere bisherigen Interviews zeigen: Die Befragten können selber einschätzen, ob und wann ihr Konsum gelingend ist», sagt Elliker. An der Studie können nur Personen teilnehmen, die bereits regelmässig Cannabis konsumieren.

Um das Muster von gelingendem Konsum zu ergründen, wollen die beiden Soziologen unterstützt von einem kleinen Team mit rund 100 Studienteilnehmenden qualitative Tiefeninterviews führen.

Qualitativ bedeutet, dass die Interviews nicht der Prüfung von Hypothesen dienen sollen. Stattdessen werden die so gewonnenen Informationen kategorisiert und zusammengefasst. Parallel dazu befragen sie die mehreren tausend Teilnehmenden der zwei Studien regelmässig mit quantitativen Fragebögen. Dabei überprüfen sie mehrere Hypothesen, unter anderem zu verschiedenen typischen Verwendungsweisen von Cannabis oder zum Zusammenhang von Lebenssituation und unproblematischem Konsum.  

Versuche starten 2026

2022 führten die Soziologen in St.Gallen bereits eine Vorstudie durch, in deren Rahmen sie 30 Konsumierende befragten. Die nun anstehenden Versuche mit legaler Abgabe von Cannabis in St.Gallen und im Tessin müssen noch vom Bundesamt für Gesundheit bewilligt werden. Mit dem Start rechnen die beiden HSG-Forscher im Laufe von 2026. «Sollte es in den nächsten Jahren zu einer Legalisierung kommen, so muss man sich bewusst sein, dass dies einen Markt mit wirtschaftlichem Potential öffnet», sagt Reichle. 
 

Im Sommer 2025 haben «Unexplored Realities» zudem das Buch «Zukunft Cannabis» veröffentlicht. Es umfasst 104 Seiten und will laut Klappentext eine Übersicht liefern über die wichtigsten Fragen rund um den Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Cannabis. Das Büchlein ist beim Seismo-Verlag digital frei verfügbar und richtet sich «an die interessierte Öffentlichkeit, an Politiker:innen, Journalist:innen und vor allem Sozialwissenschaftler:innen», so schreibt der Verlag.

«Als Wissenschaftler stehen wir in der Verantwortung, unsere Erkenntnisse breiten Kreisen zugänglich und verständlich zu machen», sagt Reichle. Sie wollen über den Kreis von wissenschaftlichen Fachpublikationen herausgehen – davon zeugt die ansprechende Gestaltung sowie der lesbare Ton von «Zukunft Cannabis». Cannabis wird darin aus diversen fachlichen Perspektiven behandelt: Auch der HSG-Historiker Caspar Hirschi, der HSG-Soziologe und Lateinamerika-Experte Matias Dewey sowie der langjährige Suchtexperte und Psychiater Toni Berthel haben Beiträge geschrieben. 

Dokumentarfilm über post-Apartheid in Südafrika angestossen

Die thematische Vielfalt des Forschungskollektiv zeigt ein anderes Projekt, das «Unexplored Realities» umtreibt: Sie erforschten 2017 bis 2021, wie sich die post-Apartheid-Transformation an südafrikanischen Universitäten in Student:innenwohnheimen vollzieht. Der Fokus lag dabei auf weissen, besonders afrikaanssprachige Studierende. «Diese werden an Universitäten plötzlich zu einer Minderheit und müssen sich mit einem neuen Rollenbild arrangieren», sagt Elliker.

Er und Reichle verbrachten für die Studie als teilnehmende Beobachter – eine Forschungsmethode aus der Ethnografie – jeweils mehrere Tage mit den Studierenden und beobachteten und befragten diese. Sie machten dabei auch Filmaufnahmen.

«Mit der Zeit merkten wir, dass das Thema einerseits sehr ergiebig ist und wir andererseits nicht die Ressourcen für eine überzeugende Filmarbeit hatten», sagt Reichle. Er knüpfte den Kontakt zur Dokumentarfilmerin Fabienne Steiner, die bis ins Jugendalter in Südafrika aufgewachsen ist. 
 

Studierende auf dem Campus.

Szene aus dem Film

Der Lebensstandard in den Wohnheimen ist bescheiden.

Film mit internationalem Erfolg

Steiner und Co-Autor und Cutter Michael Bolliger begleiteten die Soziologen ins Feld und reisten später mehrfach eigenständig nach Südafrika . Der daraus entstandene Film «Fitting In» begleitet Studierende im prestigeträchtigen Studierendenwohnheim Eendrag an der Universität Stellenbosch durch ein ganzes Jahr. Dabei, so heisst es in der Beschreibung, «treffen junge Männer aus allen Gesellschaftsschichten auf koloniale Strukturen und Traditionen».

Der Film hat auch international Erfolg: Er lief am Dokfilm-Festival «Visions du réel» in Nyon, am Festival Internacional de Cine Independiente in Buenos Aires sowie am Encounters Film Festival in Südafrika. Vorstellungen sind auch in der Schweiz sowie in St.Gallen geplant (she. unten). 

Unexplored Realities wollen weiter auf Empfang bleiben und Themen aus der Nische holen: Sie interessieren sich dabei auch für Architektur, Stadtplanung, Machtstrukturen und -verschiebungen oder den gesellschaftlichen Umgang mit psychedelischen Substanzen. «Langweilig wird es uns nicht – es gibt noch viele gesellschaftlich relevante Themen , die in der Mainstream-Wissenschaft zu wenig Beachtung finden», sagt Elliker.

 


Vorstellungen:

Vorpremieren: 16. September 2025, kult.kino Basel / 17. September 2025, Riffraff Zürich

Premiere: 18. September 2025, Kinok St.Gallen (weitere Vorstellungen im Oktober) 

 

 

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