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Hintergrund - 14.10.2025 - 16:00 

Wirtschaftsnobelpreis: Was Wachstum wirklich antreibt

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 2025 würdigt Joel Mokyr, Philippe Aghion und Peter Howitt für ihre Arbeit zu Innovation und technologischem Fortschritt. In diesem Beitrag erläutert HSG-Assistenzprofessor Bruno Caprettini die Bedeutung ihres Werkes.

Um diese Ehrung besser zu verstehen, muss man in die Vergangenheit reisen, als es noch wenig Innovation und Fortschritt gab. Bis 1800 stagnierten alle menschlichen Gesellschaften: Kinder lebten das Leben ihrer Eltern nach und bauten auf demselben Land dieselben Feldfrüchte an. Es gab zwar «Blütezeiten» – kurze Wachstumsphasen –, aber diese dauerten nie länger als ein paar Generationen, bevor Kriege, Epidemien und Naturkatastrophen alle Fortschritte zunichte machten. Um 1800 änderte sich die Lage, als zuerst Großbritannien, dann Westeuropa und Amerika und schließlich Asien zum ersten Mal ein nachhaltiges Wachstum erlebten. Der Wandel war geradezu außergewöhnlich: Ein 1800 geborenes Kind hatte eine Lebenserwartung von 35 Jahren; es hatte nur eine Chance von 3 zu 5, seinen 5. Geburtstag zu feiern. Heute kann es darauf hoffen, 80 Jahre alt zu werden, und es ist so gut wie sicher, dass es die Kindheit überleben wird. Es kann auch davon ausgehen, dass es 1600 Stunden pro Jahr arbeiten wird, statt der 2700 Stunden, die sein Ururgroßvater während der industriellen Revolution schuften musste – das sind anderthalb Monate zusätzlicher Urlaub! Und natürlich würde es viel mehr verdienen: einigen Schätzungen zufolge vierzehnmal mehr. Das Wachstum der letzten 200 Jahre stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten, und die Grafik, die dies veranschaulicht, wird oft als «Hockeyschlägerkurve» bezeichnet.

Wie lässt sich dieses explosive Wachstum erklären? Mit Kapitalakkumulation jedenfalls nicht. Ein Pflug mag die Produktivität eines Bauern verdoppeln, aber um die Produktivität von zwei Bauern zu verdoppeln, brauchen wir zwei Pflüge. Da die meisten Produktionsmittel nicht geteilt werden können, steigern sie nur die Produktivität einiger Arbeiter. Mit «Ideen» und «Technologie» als Produktionsmittel verhält es sich jedoch anders. Wenn ein Landwirt entdeckt, dass Fruchtwechsel die Erträge steigert, hindert nichts seinen Nachbarn daran, diese Idee zu kopieren. Da Ideen «unendlich wiederverwendbar» sind, steigern neue Ideen die Produktivität mehr als Kapital: Das Pro-Kopf-Produkt hängt nicht wie Kapital von der Anzahl pro Kopf ab, sondern vom Gesamtbestand an Ideen. Die diesjährigen Nobelpreisträger haben uns gelehrt, wie neue Ideen entstehen.

Die Industrielle Revolution, die keine Revolution war

Joel Mokyr, ein ebenso hervorragender Historiker wie scharfsinniger Ökonom, hat sich intensiv mit den Determinanten der industriellen Revolution befasst. Seine Forschungen zeigen, dass der technologische Aufstieg Großbritanniens eng mit der Qualität seiner Arbeitskräfte verbunden war: Über Generationen hinweg hatten britische Handwerker viel ungeschriebenes Wissen angesammelt, das es ihnen ermöglichte, immer komplexere Maschinen einzuführen und zu warten. In seinen Büchern wird die industrielle Revolution lebendig, und wir erkennen, dass «Revolution» eigentlich eine Fehlbezeichnung ist: Das nachhaltige Wachstum war das Ergebnis eines «ständigen Stroms von Mikro-Erfindungen» und nicht das Ergebnis eines oder zweier Geniestreichs.

Grosse Unternehmen verhindern häufig Innovation

Philippe Aghion und Peter Howitt waren die ersten, die über Innovation auf Unternehmensebene nachdachten und sich fragten, welche Unternehmen am ehesten neue Technologien einführen würden. Man könnte nun erwarten, dass große, finanzstarke Unternehmen neue, disruptive Technologien auf den Markt bringen: Wer sonst hätte die Ressourcen, um diese Ideen zu entwickeln? Diese Argumentation lässt jedoch einen entscheidenden Aspekt der Innovation außer Acht, der im Mittelpunkt der Arbeit von Aghion und Howitt steht. Neue Ideen bringen sowohl Gewinner als auch Verlierer hervor: Sie schaffen neue Märkte, aber sie «stehlen» auch das Geschäft von Unternehmen, die die alten Märkte bedienen. Dieser Prozess der «kreativen Zerstörung» bedeutet, dass technologische Vorreiter oft am wenigsten geneigt sind, neue Technologien einzuführen. Man denke nur daran, wie die jüngsten Large Language Models der künstlichen Intelligenz die Online-Suche revolutioniert haben: Seit der Einführung von ChatGPT und ähnlichen Diensten fragen die Menschen lieber Bots ab, anstatt Suchmaschinen zu nutzen. Etablierte Suchmaschinen wie Google hatten am meisten zu verlieren und zögerten deshalb, die neue Technologie einzuführen. Agilere Start-ups wie OpenAI und Perplexity griffen die neue Idee jedoch schnell auf. 

Schlüsse für die Innovationspolitik

Diese Erkenntnis ist tiefgreifend und bedeutet, dass die Innovationspolitik dafür sorgen muss, dass die großen Akteure den technologischen Fortschritt nicht behindern. Der diesjährige Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erinnert uns daran, dass der heutige Lebensstandard das Ergebnis von zwei Jahrhunderten Innovation ist, und warnt uns, dass weiterer Fortschritt nicht automatisch erfolgt, sondern mit intelligenten Innovationspolitiken gesteuert werden muss.

Um diese Ehrung besser zu verstehen, muss man in die Vergangenheit reisen, als es noch wenig Innovation und Fortschritt gab. Bis 1800 stagnierten alle menschlichen Gesellschaften: Kinder lebten das Leben ihrer Eltern nach und bauten auf demselben Land dieselben Feldfrüchte an. Es gab zwar «Blütezeiten» – kurze Wachstumsphasen –, aber diese dauerten nie länger als ein paar Generationen, bevor Kriege, Epidemien und Naturkatastrophen alle Fortschritte zunichte machten. Um 1800 änderte sich die Lage, als zuerst Großbritannien, dann Westeuropa und Amerika und schließlich Asien zum ersten Mal ein nachhaltiges Wachstum erlebten. Der Wandel war geradezu außergewöhnlich: Ein 1800 geborenes Kind hatte eine Lebenserwartung von 35 Jahren; es hatte nur eine Chance von 3 zu 5, seinen 5. Geburtstag zu feiern. Heute kann es darauf hoffen, 80 Jahre alt zu werden, und es ist so gut wie sicher, dass es die Kindheit überleben wird. Es kann auch davon ausgehen, dass es 1600 Stunden pro Jahr arbeiten wird, statt der 2700 Stunden, die sein Ururgroßvater während der industriellen Revolution schuften musste – das sind anderthalb Monate zusätzlicher Urlaub! Und natürlich würde es viel mehr verdienen: einigen Schätzungen zufolge vierzehnmal mehr. Das Wachstum der letzten 200 Jahre stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten, und die nachfolgende Grafik, die dies veranschaulicht, wird oft als «Hockeyschlägerkurve» bezeichnet.

Hockeykurve22

Source: Clark, Gregory. 2007. "The condition of the working class in England, 1209-2004." Journal of Political Economy 113(6):1307-1340.

Nicht Kapital ist der wichtigste Wachstumsfaktor

Wie lässt sich dieses explosive Wachstum erklären? Mit Kapitalakkumulation jedenfalls nicht. Ein Pflug mag die Produktivität eines Bauern verdoppeln, aber um die Produktivität von zwei Bauern zu verdoppeln, brauchen wir zwei Pflüge. Da die meisten Produktionsmittel nicht geteilt werden können, steigern sie nur die Produktivität einiger Arbeiter. Mit «Ideen» und «Technologie» als Produktionsmittel verhält es sich jedoch anders. Wenn ein Landwirt entdeckt, dass Fruchtwechsel die Erträge steigert, hindert nichts seinen Nachbarn daran, diese Idee zu kopieren. Da Ideen «unendlich wiederverwendbar» sind, steigern neue Ideen die Produktivität mehr als Kapital: Das Pro-Kopf-Produkt hängt nicht wie Kapital von der Anzahl pro Kopf ab, sondern vom Gesamtbestand an Ideen.
Die Industrielle Revolution, die keine war
Die diesjährigen Nobelpreisträger haben uns gelehrt, wie neue Ideen entstehen. Joel Mokyr, ein ebenso hervorragender Historiker wie scharfsinniger Ökonom, hat sich intensiv mit den Determinanten der industriellen Revolution befasst. Seine Forschungen zeigen, dass der technologische Aufstieg Großbritanniens eng mit der Qualität seiner Arbeitskräfte verbunden war: Über Generationen hinweg hatten britische Handwerker viel ungeschriebenes Wissen angesammelt, das es ihnen ermöglichte, immer komplexere Maschinen einzuführen und zu warten. In seinen Büchern wird die industrielle Revolution lebendig, und wir erkennen, dass «Revolution» eigentlich eine Fehlbezeichnung ist: Das nachhaltige Wachstum war das Ergebnis eines «ständigen Stroms von Mikro-Erfindungen» und nicht das Ergebnis eines oder zweier Geniestreichs.

Grosse Unternehmen verhindern häufig Innovation

Philippe Aghion und Peter Howitt waren die ersten, die über Innovation auf Unternehmensebene nachdachten und sich fragten, welche Unternehmen am ehesten neue Technologien einführen würden. Man könnte nun erwarten, dass große, finanzstarke Unternehmen neue, disruptive Technologien auf den Markt bringen: Wer sonst hätte die Ressourcen, um diese Ideen zu entwickeln? Diese Argumentation lässt jedoch einen entscheidenden Aspekt der Innovation außer Acht, der im Mittelpunkt der Arbeit von Aghion und Howitt steht. Neue Ideen bringen sowohl Gewinner als auch Verlierer hervor: Sie schaffen neue Märkte, aber sie «stehlen» auch das Geschäft von Unternehmen, die die alten Märkte bedienen. Dieser Prozess der «kreativen Zerstörung» bedeutet, dass technologische Vorreiter oft am wenigsten geneigt sind, neue Technologien einzuführen. Man denke nur daran, wie die jüngsten Large Language Models der künstlichen Intelligenz die Online-Suche revolutioniert haben: Seit der Einführung von ChatGPT und ähnlichen Diensten fragen die Menschen lieber Bots ab, anstatt Suchmaschinen zu nutzen. Etablierte Suchmaschinen wie Google hatten am meisten zu verlieren und zögerten deshalb, die neue Technologie einzuführen. Agilere Start-ups wie OpenAI und Perplexity griffen die neue Idee jedoch schnell auf. 

Schlüsse für die Innovationspolitik

Diese Erkenntnis ist tiefgreifend und bedeutet, dass die Innovationspolitik dafür sorgen muss, dass die großen Akteure den technologischen Fortschritt nicht behindern. Der diesjährige Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erinnert uns daran, dass der heutige Lebensstandard das Ergebnis von zwei Jahrhunderten Innovation ist, und warnt uns, dass weiterer Fortschritt nicht automatisch erfolgt, sondern mit intelligenten Innovationspolitiken gesteuert werden muss.

 

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