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Hintergrund - 07.07.2025 - 10:00 

«Klimapolitik ist immer auch eine Frage von Gerechtigkeit» – ein Gespräch mit Klaus Dingwerth

Extreme Wetter, wachsende Ungleichheit und politische Polarisierung: Die Klimakrise ist längst mehr als ein ökologisches Problem – sie ist eine Gerechtigkeitsfrage. Der St.Galler Politikwissenschaftler Klaus Dingwerth erklärt im Gespräch, warum ohne soziale Fairness keine wirksame Klimapolitik möglich ist, was er von einer Erbschaftssteuer für den Klimaschutz hält – und weshalb Alltagserfahrungen wie Hitzespiele im Fussball politische Sprengkraft haben können.

Klaus Dingwerth ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität St.Gallen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit globaler Umweltpolitik, internationalen Organisationen und den Möglichkeiten demokratischen Regierens jenseits des Nationalstaats. In seinem aktuellen Buch «Klimagerechtigkeit – zur Einführung» (Junius Verlag, 2024) beleuchtet er, was eine gerechte Klimapolitik ausmacht – und warum es entscheidend ist, die sozialen Dimensionen der Klimakrise mitzudenken. Im Gespräch ordnet er aktuelle Entwicklungen ein und erklärt, warum Klimagerechtigkeit sowohl ethisch als auch politisch zentral ist.

Prof. Dr. Klaus Dingwerth

Herr Professor Dingwerth, Europa steht erneut unter dem Eindruck extremer Wetterlagen: So berichtet zum Beispiel die «Financial Times» von einer Hitzewelle, die sich über weite Teile des Kontinents zieht, gleichzeitig kam es zu schweren Erdrutschen in den Dolomiten («20 Minuten») und in Blatten («SRF News»). Wie bewerten Sie diese Ereignisse mit Blick auf die globale Klimapolitik – und welche Rolle spielt dabei ein Land wie die Schweiz?

Extreme Wetterlagen wie Hitzewellen und Erdrutsche zeigen, dass der Klimawandel längst Realität ist – auch in Europa. Für die globale Klimapolitik ändert das unmittelbar wenig. Die Dringlichkeit ist allen Menschen, die klimapolitische Entscheidungen treffen, bekannt. Mittelbar sind zwei gegenläufige Folgen denkbar:

Zum einen können direkte Erfahrungen mit den Folgen der Klimakrise die Bereitschaft für klimapolitische Massnahmen erhöhen, auch in Ländern wie der Schweiz. Zum anderen wirft die Zuspitzung der Klimakrise eine Vielzahl neuer Verteilungsfragen auf: Wer trägt die Kosten für Klimaschutz, Anpassung, Schäden und Verluste? Wie werden die nötigen Mittel aufgebracht? Und wie unterstützen wir Menschen, deren Arbeitsplätze durch die Umstellung auf eine klimaverträgliche Wirtschaftsweise verloren gehen? Die Verteilungskämpfe, die damit verknüpft sind, fördern eine Polarisierung der Klimapolitik.

In Grossbritannien äusserten sich gemäss einer Untersuchung, über die auch «The Guardian» berichtet hat, mehr als 80 Prozent der Landwirtinnen und Landwirte besorgt über die Folgen des Klimawandels für ihre wirtschaftliche Existenz. Zeichnen sich ähnliche Entwicklungen auch in der Schweiz ab?

Ich beobachte eine Art «Endspiel» um die Klimapolitik. So argumentiert etwa eine Gruppe britischer und nordamerikanischer Forschender, dass wir Klimapolitik am besten als Auseinandersetzung zwischen den Besitzerinnen klimaschädlicher und klimaanfälliger Werte verstehen können, bei der für einige Akteure die eigene Existenz auf dem Spiel steht.

«Klimaschädliche Werte» sind dabei eng mit der Förderung und Verbrennung fossiler Energieträger verbunden. Treiben Regierungen die Dekarbonisierung ihrer Volkswirtschaften entschieden voran, sinken diese Werte; sollen Emissionen auf null sinken, gehen auch die klimaschädlichen Werte gegen null. «Klimaanfällige Werte» sind hingegen durch die Folgen der Klimakrise bedroht. Das betrifft Fabriken auf Meeresspiegelhöhe ebenso wie den Skitourismus in den Alpen. Solche Werte sinken mit jedem Zehntelgrad, um das die globale Durchschnittstemperatur weiter steigt – auch hier mit mitunter existenziellen Folgen.

Die Landwirtschaft gehört zu beiden Seiten. Sie setzt Treibhausgase frei, hat aber durch den Klimawandel zunehmend Produktivitätsverluste zu verzeichnen. In einer «existenziellen Klimapolitik» muss sie sich zusammen mit einer Reihe weiterer Industriezweige für sehr unterschiedliche Szenarien wappnen. Die Sorgen sind also verständlich.

«Direkte Erfahrungen mit den Folgen der Klimakrise können die Bereitschaft für klimapolitische Massnahmen erhöhen, auch in Ländern wie der Schweiz.»
Prof. Dr. Klaus Dingwerth

Im November kommt in der Schweiz die «Initiative für eine soziale Klimapolitik» zur Abstimmung, die unter anderem eine Erbschaftssteuer auf sehr grosse Vermögen zugunsten des Klimaschutzes vorsieht. Laut «SRF News» dürfte sie im Abstimmungskampf stark polarisieren. Wie ordnen Sie diesen Vorschlag ein?

Klimaschutz und Klimaanpassung erfordern finanzielle Mittel. Expertinnen und Experten empfehlen hierfür meist Lenkungsabgaben wie CO₂-Steuern oder Emissionszertifikate. Diese haben den Vorteil, dass sie umweltschädliches Verhalten verteuern und gleichzeitig staatliche Einnahmen generieren, um Klimamassnahmen zu finanzieren. Allerdings sind solche Abgaben politisch oft schwer durchsetzbar.

Eine Erbschaftssteuer verfolgt einen anderen Ansatz. Sie folgt dem Prinzip der Zahlungsfähigkeit («ability to pay principle»). In Gerechtigkeitsdebatten wird dieses Prinzip meist dann herangezogen, wenn Verursacher oder Profiteure nicht ausreichend belangt werden können. In solchen Fällen braucht es alternative Quellen zur Begleichung der bereits entstandenen bzw. der Abwendung weiterer Schäden.

Die Besteuerung grosser Erbschaften kann eine solche Alternative sein. Der Wert der Initiative liegt für mich aber zunächst woanders: Sie stösst eine öffentliche Debatte darüber an, woher die Finanzierung eines gerechten Übergangs in eine kohlenstoffarme Wirtschaftsweise denn nun kommen soll. Welcher Weg hier richtig ist, müssen demokratische Gesellschaften jeweils für sich beantworten – die Initiative ist Teil des Aushandlungsprozesses.

Auch in kulturellen und sportlichen Zusammenhängen zeigt sich die Klimakrise: Während der Frauenfussball-EM in der Schweiz mussten Spiele bei über 30 Grad ausgetragen werden – ein Thema, das unter anderem von «Reuters» aufgegriffen wurde. Welche Rolle spielen solche Alltagserfahrungen in der öffentlichen Wahrnehmung – und können sie zur politischen Mobilisierung beitragen?

Solche Alltagserfahrungen machen die Folgen des Klimawandels für viele Menschen spürbar und können die Sensibilität für das Thema erhöhen. Sie zeigen, dass der Klimawandel nicht nur ferne Regionen betrifft, sondern auch unseren Alltag verändert. Für eine breite politische Mobilisierung reichen diese Erfahrungen aber kaum aus. Die stärkere Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung und die politische Debatte haben nach wie vor Bilder und Berichte von schweren Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Waldbränden, Erdrutschen, Wirbelstürmen.

«Klimagerechtigkeit ist mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Gerade weil die Zuspitzung der Klimakrise so viele Verteilungsfragen auf einmal aufwirft, hat Klimagerechtigkeit immer auch mit inklusiven und fairen Entscheidungsverfahren zu tun.»
Prof. Dr. Klaus Dingwerth

In einem Beitrag auf «SRF Wissen» wurde kürzlich thematisiert, wie schwierig es geworden ist, konstruktiv über den Klimawandel zu sprechen. Was sind aus Ihrer Sicht die Voraussetzungen für einen konstruktiven Diskurs?

In einer «existenziellen Klimapolitik» ist ein sachlicher politischer Diskurs kaum möglich – ein Teil der Akteure hat daran schlicht kein Interesse. Wenn diese Akteure über hohe finanzielle Ressourcen verfügen, ist eine Polarisierung des öffentlichen Diskurses vorprogrammiert.

Besser gelingt die sachliche, lösungsorientierte Auseinandersetzung dagegen in Formaten, in denen konkrete Vorschläge zu Fragen der Transformation und Anpassung an den Klimawandel erarbeitet werden. Bürgerräte sind ein gutes Beispiel hierfür. In ihnen erarbeiten zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene klimapolitische Lösungen. Die zufällige Zusammensetzung erlaubt es ihnen, bestehende Gräben zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen zu überwinden und Lösungen zu entwickeln, die für viele zustimmungsfähig sind.

In Ihrem Buch «Klimagerechtigkeit – zur Einführung» analysieren Sie, warum Fragen der Gerechtigkeit im Zentrum einer legitimierten und langfristig wirksamen Klimapolitik stehen müssen. Welche Ihrer Überlegungen erscheinen Ihnen im Lichte der aktuellen Entwicklungen besonders relevant?

Erstens: Die Klimakrise ist auch eine Gerechtigkeitskrise – und zwar zwischen Staaten wie innerhalb von Gesellschaften. Übersehen wir das, können wir weder die aktuellen Verschiebungen in der internationalen Ordnung noch die Polarisierung unserer Gesellschaften adäquat verstehen und ihnen begegnen.

Zweitens: Klimagerechtigkeit ist mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Gerade weil die Zuspitzung der Klimakrise so viele Verteilungsfragen auf einmal aufwirft, hat Klimagerechtigkeit immer auch mit inklusiven und fairen Entscheidungsverfahren sowie mit der Anerkennung verschiedener Anspruchsgruppen und ihrer spezifischen Lebenswirklichkeiten zu tun. Diese drei Dimensionen der Klimagerechtigkeit sind eng verknüpft: Eine gerechte Verteilung ergibt sich am ehesten aus fairen Verfahren; und faire Entscheidungsverfahren setzen voraus, dass relevante Anspruchsgruppen gesehen und angemessen eingebunden werden.

Drittens: Klimagerechtigkeit ist ein Prozess. Um ihn zu meistern, brauchen wir eine Vorstellung der Klimagerechtigkeit, die sich in machbare Schritte übersetzen lässt und zum Handeln motiviert. Wenn Normen der Klimagerechtigkeit bei ihren Adressatinnen und -adressaten vor allem Schuld- und Schamgefühle auslösen, fürchte ich, dass sich viele von diesen Normen abwenden werden. Das darf nicht passieren – denn am Ende zählt, was funktioniert.

Wenn Sie den Kern Ihrer Argumentation in einem Satz auf den Punkt bringen müssten: Was macht eine Klimapolitik gerecht und woran kann man das konkret festmachen?

Hier ist ein Test: Könnten wir einer Klimapolitik mit guten Gründen zustimmen, auch wenn wir zum Zeitpunkt unserer Zustimmung nicht wüssten, welcher Gesellschaft, welcher Generation und welcher sozialen Schicht wir einmal angehören werden? Beantworten wir diese Frage mit ja, spricht vieles dafür, dass die Klimapolitik gerecht ist. Andernfalls sollten wir nach Wegen suchen, sie zu verbessern – und dabei immer bedenken, dass die Zeit drängt.


Das Buch «Klimagerechtigkeit – zur Einführung» von Prof. Dr. Klaus Dingwerth ist 2025 im Junius Verlag erschienen.

Bild: Unsplash / Markus Spiske

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