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Forschung - 27.11.2025 - 15:00 

Das lokale Spital als globaler Arbeitsort

Die medizinische Versorgung in der Schweiz gilt im weltweiten Vergleich als solide. Doch auch hierzulande stellt der Fachkräftemangel Spitäler vor grosse Herausforderungen, die sie häufig nur dank der zusätzlichen, oft unsichtbaren Tätigkeit Mitarbeitender aus aller Welt bewältigen. HSG-Professorin Jelena Tošić untersucht in einem SNF-Forschungsprojekt, welche Aufgaben ein lokales Spital mit internationalem Personal stemmt. Mit dem Ziel, diesen globalen Arbeitsort inklusiver und produktiver zu gestalten.
Quelle: SHSS-HSG

Im laufenden Jahrzehnt, von 2019 bis 2029, wird laut einer Analyse des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums für die Schweiz ein zusätzlicher Bedarf von rund 36’500 Pflege- und Betreuungspersonen prognostiziert. Besonders betroffen sind Spitäler (+17 %), Pflegeheime (+26 %) und Spitex-Dienste (+19 %). Dabei stützt sich die Gesundheitsversorgung zunehmend auf migrantische Arbeitskräfte. Viele dieser meist weiblichen Care-Arbeiterinnen, häufig aus Süd- und Osteuropa oder Lateinamerika, arbeiten unter prekären Bedingungen, oft mit eingeschränkter sozialer Absicherung und ohne ausreichenden rechtlichen Schutz.  

Während informelle Care-Arbeit im privaten Raum stattfindet und dadurch oft unsichtbar bleibt, sind auch in formellen Bereichen wie Spitälern Arbeitskräfte mit transnationalen Migrationsbiografien in zentralen, jedoch häufig wenig sichtbaren Funktionen tätig. Die medizinische Versorgung stützt sich dabei nicht nur auf Ärztinnen und diplomiertes Pflegepersonal; vielmehr bilden Pflege-, Reinigungs- und Küchenpersonal das Rückgrat der täglichen Abläufe. 

Diese transnational verflochtenen Arbeits- und Sorgearrangements, insbesondere in Spitälern, stehen im Zentrum des Forschungsprojekts des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) «The Global Hospital – Reproducing Healthcare through Entanglements of Labour, Mobility and Knowledge». Das mit einem Gesamtbudget von rund 1,5 Mio. CHF geförderte Kooperationsprojekt der Universität St.Gallen (HSG), der Berner Fachhochschule und der Universität Wien rückt Spitäler als global vernetzte Orte in den Fokus, an denen soziale, politische und wirtschaftliche Dynamiken zusammenwirken. 

Im Zentrum des Teilprojekts «Dis/entangling routes of labour: Tracing diasporic and recruitment pathways of hospital workers» unter der Leitung von Prof. Dr. Jelena Tošić der Universität St.Gallen stehen die biografischen, bildungs- und sozioökonomischen Hintergründe von Spitalsarbeiterinnen und -arbeitern in ihren jeweiligen Herkunftsländern sowie die Rolle diasporischer Netzwerke und internationaler Rekrutierungsagenturen bei ihrer Anwerbung.

Prof. Dr. Jelena Tošić

Professorin Jelena Tošić, in Ihrem Projekt verwenden Sie den Begriff «Global Hospital» (globales Spital), der über das klassische Verständnis eines lokalen Versorgungsorts hinausgeht. Was fasst dieser Begriff zusammen?  

Prof. Dr. Jelena Tošić: Mit dem Begriff «Global Hospital» rücken wir Spitäler als Knotenpunkte globaler Versorgungsketten in den Fokus. Sie sind soziale Räume, in denen – über die vielfältigen Migrationsbiografien der Spitalarbeiterinnen und -arbeiter – Pflege- und Versorgungspraktiken sowie Wissensbestände aus unterschiedlichen sozio-kulturellen Kontexten aufeinandertreffen. 

Wie Mitarbeitende aus unterschiedlichen Herkunftskontexten in Spitälern zusammenarbeiten, ist bislang wenig erforscht. In unserem Projekt fragen wir deshalb, welche internationalen Ausbildungs- und Mobilitätspfade im Spital münden, wer welche Arbeit übernimmt, wie Wissen weitergegeben wird und wie sich das auf den klinischen Alltag auswirkt. Im Fokus steht die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gruppen des nicht-medizinischen Personals, etwa Pflegerinnen und Reinigungskräften aus Kolumbien oder dem post-jugoslawischen Raum. 

Gestützt auf ihre Sprachkenntnisse und Migrationsbiografien übernehmen diese Mitarbeitenden zusätzlich spontan zu ihren offiziellen Aufgaben weitere, oft unsichtbare und unbezahlte Tätigkeiten. Dazu gehören etwa Übersetzungen, Unterstützung bei der Körperpflege oder psychologischer Beistand in der eigenen Landessprache. Wir verwenden im Projekt die Begriffe «reproduktive Arbeit» und «more-than-medical labor» und meinen damit Arbeitsleistungen, die medizinische Versorgung erst ermöglichen – von Reinigung und Ernährung über emotionale Unterstützung bis hin zu Beziehungsarbeit. Diese Tätigkeiten vermitteln zwischen Patientinnen und Patienten, der Ärzteschaft und weiteren Berufsgruppen und schaffen eine wichtige infrastrukturelle Grundlage für den klinischen Alltag.

«Mit den Begriffen ‘reproduktive Arbeit’ und ‘more-than-medical labor’ in unserem Projekt meinen wir Arbeitsleistungen, die medizinische Versorgung erst ermöglichen – von Reinigung und Ernährung über emotionale Unterstützung bis hin zu Beziehungsarbeit.»
Prof. Dr. Jelena Tošić, Kultur- und Sozialanthropologin sowie Professorin für Migrationsstudien an der Universität St.Gallen

Neben der Pflegeinitiative, die auf die Aufwertung der Pflegeberufe im Inland abzielt und als zentrale Antwort auf den anhaltenden Fachkräftemangel gilt, wird auch gezielt Pflegefachpersonal aus Drittstaaten rekrutiert. Erste Projekte, wie jüngst mit philippinischen Pflegekräften, zeigen jedoch Herausforderungen wie Sprachbarrieren, hohen Einarbeitungsaufwand und teils kritische Rückmeldungen aus dem bestehenden Personal. Gleichzeitig leisten viele Care-Migrantinnen vor allem aus Osteuropa weiterhin informelle Care-Arbeit in Privathaushalten, wie eine Studie der ZHAW belegt. Wie berücksichtigt Ihr Projekt diese Doppelrealität von formeller Rekrutierung und informeller Care-Arbeit im Schweizer Gesundheitssystem?  

Prof. Dr. Jelena Tošić: Informelle Pflegekontexte wie die sogenannte «Live-in-Pflege» gehören zu den zentralen Themen unserer Zeit, besonders in Wohlstandsgesellschaften wie der Schweiz. Der demografische Wandel mit steigender Lebenserwartung und rückläufiger Geburtenzahlen erhöht den Bedarf an Care-Arbeit. In der Forschung wird diese Entwicklung als «crisis of care» bezeichnet: Politisch-ökonomische Strukturen lagern zentrale Aufgaben der sozialen Reproduktion (insbesondere der Pflege) an marginalisierte und häufig prekär beschäftigte Bevölkerungsgruppen aus, vor allem an Frauen und Menschen mit Migrationsbiografie. 

Die im Zuge der laufenden Umsetzung der Pflegeinitiative angestossenen Massnahmen sind wichtige Schritte, um die Situation von Care-Arbeitenden zu verbessern. Aus meiner Sicht können diese sinnvoll mit migrationspolitischen Anpassungen kombiniert werden, damit Arbeitskräfte aus Drittstaaten auch über die heutige 18-Monatsfrist des Stagiaire-Abkommens hinaus in der Schweiz tätig sein können. Ob und in welcher Form «Live-in Pflege» für unser Projekt relevant wird, zeigt sich erst im weiteren Verlauf der Forschung. Da wir jedoch Rekrutierungspfade analysieren und die beruflichen Verläufe der Spitalarbeiterinnen und -arbeiter berücksichtigen, interessiert uns auch, ob und wie Wege aus der «Live-in-Pflege» in den Spitalbereich führen. 

Über transkulturelle Herausforderungen bei der Eingliederung von Arbeitskräften aus Drittstaaten hinaus fokussieren wir auf den bislang wenig erforschten Wissens- und Praxisaustausch zwischen Spitalarbeiterinnen und -arbeitern mit unterschiedlichen Migrationsbiografien. Insbesondere dort, wo Grenzen zwischen medizinischen und nicht-medizinischen Tätigkeiten verschwimmen. Denn Migration ist nicht nur eine gesellschaftliche Herausforderung, sondern auch eine Wissens- und Innovationsressource. Deshalb betrachten wir neben formal hochqualifizierten medizinischen und pflegerischen Mitarbeitenden auch Servicekräfte und andere Mitarbeitende, die vielleicht keine formale Qualifikation besitzen, aber durch langjährige Erfahrung im Spital oder auch durch vorherige Gesundheitsausbildungen wertvolles Erfahrungswissen einbringen. Dieses Wissen kommt neuen Mitarbeitenden wie auch Patientinnen und Patienten zugute. 


Ihr Zugang beruht auf ethnografischen Methoden. Wie vertieft dieser direkte Einblick unser Verständnis von Care-Arbeit?  

Prof. Dr. Jelena Tošić: Das Projekt beruht auf einem kombinierten methodischen Ansatz. Auf Grundlage aktueller Daten zum Gesundheitssektor in der Schweiz und in Österreich und unter Einhaltung forschungsethischer Standards wie Anonymisierung und «informed consent» arbeiten wir vor allem qualitativ. Wir nutzen drei ethnografische Zugänge: Erstens die Spitalethnografie, zweitens die so genannte «multisited fieldwork» und drittens die partizipative Designforschung, was ich gerne erläutere:  

Die Spitalethnografie ermöglicht, den komplexen Alltag vor Ort über längere Zeit mitzuerleben. Forschende beobachten Abläufe, führen Interviews und informelle Gespräche und erfassen so Situationen, Interaktionen, Praktiken und Perspektiven verschiedener Spitalarbeiterinnen und -arbeiter.  

Der Ansatz des «multisited fieldwork» erweitert diese Einblicke um die sozialen und politisch-ökonomischen Hintergründe der Spitalarbeiterinnen und -arbeiter in ihren Herkunftsländern – etwa in Kolumbien oder im post-jugoslawischen Raum. Wir verfolgen ihre Ausbildungs- und Mobilitätspfade bis in frühere Arbeitsstellen, Ausbildungsinstitutionen, Familien und soziale Netzwerke. Ebenso analysieren wir Orte, Akteure und Praktiken des internationalen Recruitings, einschliesslich kommerzieller Vermittlungsagenturen. 

Die partizipative Designforschung schliesslich mündet in eine hybride Ausstellung in Spitälern und online, die gemeinsam mit Spitalsarbeiterinnen und -arbeitern entsteht und ihre Arbeits- und Lebenswelten sichtbar macht. 


Wie beeinflussen Arbeitsmigration, die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und bürokratische Hürden den Einstieg und die Arbeit von Pflegekräften aus dem Ausland? 

Prof. Dr. Jelena Tošić: Im Rahmen des Teilprojekts verlassen wir bewusst den Spitalsalltag und reisen in die Herkunftsländer der Spitalarbeiterinnen und -arbeiter. Kolumbien ist in diesem Zusammenhang ein relativ neues Herkunftsland, was unsere Forschung besonders aktuell macht. Arbeitskräfte aus dem post-jugoslawischen Raum gestalten den schweizerischen und österreichischen Spitalalltag seit Jahrzehnten mit. Unsere Analysen sollen Rückschlüsse auf die transnationalen Verflechtungen in Spitälern erlauben – und wie diese beispielsweise die Wertvorstellungen innerhalb der Pflege- und Servicetätigkeit prägen.  

Interessant ist auch: Viele dieser Personen, oder ihre Familien, lebten noch im ehemaligen Jugoslawien, wo Pflege- und Sozialberufe hohes Ansehen genossen. Seit den späten 1990er-Jahren wurden diese Bereiche jedoch durch neoliberale Reformen und Abwanderung zunehmend zu prekären Arbeitsfeldern, häufig getragen von Frauen. Seit der Covid-19-Pandemie werden diese Tätigkeitsfelder im post-jugoslawischen Raum zudem vermehrt von neuen Migrationsgruppen aus Ländern des globalen Südens übernommen. 

Vor diesem Hintergrund wollen wir untersuchen, inwiefern diese neuen Migrationsmuster mit der unterschiedlich weit gehenden Liberalisierung der Arbeitsmigration im medizinischen und pflegerischen Bereich zusammenhängen. In Deutschland ist dieser Trend deutlich ausgeprägt, in Österreich und der Schweiz bisher jedoch weniger. 


Welche Impulse könnte Ihre Forschung für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems geben? 

Prof. Dr. Jelena Tošić: Die enge Zusammenarbeit mit den Spitälern ist für uns sehr wertvoll. Wir gestalten die Kooperation so, dass sie über die Projektlaufzeit hinaus Wirkung entfalten kann, etwa durch Paneldiskussionen, wissenschaftliche Publikationen oder hybride Ausstellungen. Das Projekt eröffnet die Möglichkeit, das Spital als zentralen Bestandteil eines sich wandelnden Gesundheits- und Pflegesektors aus einer transdisziplinären, globalen und kollaborativen Perspektive neu zu denken. 

Unsere Forschung zeigt, wie die Erfahrungen, das Netzwerk und das Wissen unterschiedlicher Gruppen von Spitalarbeiterinnen und -arbeitern gezielter erkannt und unterstützt werden können. Die Anerkennung des Werts und der Komplexität dieser Tätigkeiten ist eine zentrale Voraussetzung für ein funktionierendes Arbeits- und Managementumfeld. Darüber hinaus kann unsere Forschung Impulse geben, wie das Spital als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Arbeitsstätten inklusiver und produktiver gestaltet werden kann. 

 

Das Forschungsprojekt «The Global Hospital – Reproducing Healthcare through Entanglements of Labour, Mobility and Knowledge» wird im Rahmen einer internationalen Weave-Kooperation vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert. Das Projekt startet im Januar 2026 und läuft bis Dezember 2029, mit einem Gesamtbudget von rund 1,5 Mio. CHF. Am Projekt beteiligt sind Dr. Julia Rehsmann der FH Berner Fachhochschule (BFH), Prof. Dr. Janina Kehr der Universität Wien und seitens Universität St.Gallen Prof. Dr. Jelena Tošić, die das Teilprojekt «Dis/entangling routes of labour: Tracing diasporic and recruitment pathways of hospital workers» leitet – mit einem Anteil von 510’990 CHF des Gesamtbudgets.  

Prof. Dr. Jelena Tošić ist Kultur- und Sozialanthropologin sowie Professorin für Migrationsstudien an der Universität St.Gallen. Ihr Forschungsschwerpunkt umfasst unter anderem Mobilität, (Post)Migration und Grenzen, soziale Reproduktion und ethnografische Zugänge zu globalen Ungleichheiten. 



Titelbild: Adobe Stock / KayExam/peopleimages.com

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