1950-1952 fand an der Hochschule ein Vortragszyklus unter dem Titel «Die neue Weltschau» statt, der von Hochschuldozent Prof. Dr. Eduard Naegeli betreut und von Rektor Prof. Dr. Wolfhart F. Bürgi entscheidend gefördert wurde. Dieser Zyklus wurde zu einem sehr grossen Erfolg: Mehrere Rundfunkanstalten übernahmen die Vorträge, die auch in einem zweibändigen Werk im Druck erschienen.
Ziel der zehn Vorträge, die im Wintersemester 1950/51 und im Sommersemester 1951 gehalten wurden, sowie der acht Vorträge, die 1951/52 folgten, war es, «auf möglichst internationaler Basis eine umfassende Aussprache unter den Vertretern der verschiedensten Wissenschaften in die Wege zu leiten, um in einheitlicher Zusammenschau einen Überblick zu gewinnen über die grundlegenden Wandlungen, denen unser gesamtes Weltbild seit mehr als einem halben Jahrhundert unterworfen ist. Darüber hinaus sollen die Ansatzpunkte für das Entstehen einer neuen Kultur aufgespürt und einer breiten Öffentlichkeit bewusstgemacht werden». Der Umbruch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde als der Beginn eines neuen Zeitalters empfunden. Es sollte der Wandel in allen Bereichen – in der Philosophie, Dichtung, Musik, Pädagogik, Medizin und Physik – angesprochen werden.
Berühmte zeitgenössische Vertreter aus allen Bereichen der Wissenschaft kamen damals nach St.Gallen, u.a. Werner von Heisenberg (1901-1976), Nobelpreisträger für Physik 1932, der über «Atomphysik und Kausalgesetz» sprach, der österreichische Physiker Arthur March (1891-1957) über «Die Neuorientierung der Physik», Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) über «Das neue Bild vom Weltall», der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908-1982) über «Das Leib-Seele-Problem im Wandel der modernen Medizin», der Philosoph Max Bense (1910-1990) über «Philosophie im Zeitalter der Technik», der österreichisch-israelische Schriftsteller Max Brod (1884-1968) über «Die Suche nach einem neuen Sinn unseres Daseins».
Die meisten Vortragenden verewigten sich im Gästebuch der Handelshochschule, u.a. Mitscherlich, Bense, March, José Ortega y Gasset und Max Brod, der die Eintragung machte: «Die schöne Landschaft der Berge von St.Gallen und die schöne Seelenlandschaft gastlicher Freunde an der Hochschule bleiben mir unvergesslich. Was mir geschieht, geschieht mir ja für immer. In diesem Sinne danke ich euch. Max Brod. 30.5.51»
Rektor Bürgi selbst hat in den Hochschulnachrichten zur «Neuen Weltschau» ausführlich Stellung bezogen: Dieser Zyklus, «der sich mit den allermodernsten Erkenntnissen der Natur- und Geisteswissenschaften befasst, hat den Namen St.Gallen als eines überaus zeitgemässen und lebensnahen Kulturzentrums weit verbreitet. Massgebliche, oftmals sogar absolut erstrangige Vertreter der Wissenschaft aus dem In- und Auslande haben sich im Rahmen dieser Veranstaltung an die Handels-Hochschule begeben und hier Vorträge gehalten; durch Radioverbreitung im In- und Ausland drang die Wirkung dieser Veranstaltungen weit über unsere Grenzen hinaus. So ist die Hochschule in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einem kulturellen Zentrum geworden, in welchem sich die erstrangige fachliche Ausbildung der Fachhochschule mit dem alten humanistischen Gedanken der kulturellen Einheit, der Universitas, glücklich und in gewissem Sinne wohl erstmalig verbindet». Mit dem Begriff «Universitas» scheint angedeutet, dass sich die Hochschule nicht nur organisatorisch, sondern jetzt auch geistig auf dem Weg zu einer Universität befand.