Die exportorientierte Wirtschaft der Stadt St.Gallen war auf die Stickereiwirtschaft aufgebaut und daher sehr krisenanfällig. Um sich gegen die ausländische Konkurrenz behaupten zu können, wurde es zumindest von einem Teil der Kaufmannschaft als überlebenswichtig angesehen, junge Kräfte zu schulen. Zahlreiche Institutionen widmeten sich der Schulung des kaufmännischen Nachwuchses. Eine Forderung der Kaufleute ging auf die Erweiterung der Merkantilabteilung der Kantonsschule von drei auf vier Klassen ein. Diese Bestrebung fand die Unterstützung seitens der Politiker, des Kaufmännischen Directoriums und des Eidgenössischen Handels- und Industriedepartements. Die Diskussionen gipfelten schliesslich im Plan einer Handelsakademie für St.Gallen.
Für die Gründung einer Handelshochschule in St.Gallen haben sich vor allem drei Persönlichkeiten eingesetzt: Theophil Bernet, Georg Baumberger und Theodor Curti. Der erste Anstoss kam von Theophil Bernet (1868-1946). Bernet war im Sekretariat des Kaufmännischen Vereins Zürich tätig und wurde 1897 Professor für die kaufmännischen Fächer der Handelsabteilung der Kantonsschule Zürich; 1907-1935 war er deren Rektor.
Bernet legte am 18. Dezember 1895 in einem Vortrag in St.Gallen, zu dem der Kaufmännische Verein eingeladen hatte, seinen Mitbürgern nahe, eine Handelshochschule zu gründen. Ob von Bernet wirklich die erste Anregung ausgegangen ist, kann bezweifelt werden. Bernet hatte zwar die Idee als Erster ausgesprochen, aber er fand kein Gehör, keinen Anklang und keine Unterstützung. In einem Brief vom 23. August 1947 hat Carl Brüschweiler mit Nachdruck betont, dass der eigentliche Anstoss zur Gründung von Prof. Dr. Steiger kam, der eine Versuchsanstalt für Textilindustrie in Verbindung mit einer höheren Handelsschule wollte, weil das den St.Galler Wirtschaftsinteressen am meisten entsprach.
Georg Baumberger (1855-1931), Chefredakteur der «Ostschweiz», griff eineinhalb Jahre später Bernets Anregung auf. Wie er in einem ihm zugeschriebenen Artikel in der «Ostschweiz» vom 16. Juli 1897 ausführte, eigne sich St.Gallen aufgrund seines «industriepolitischen Esprits» vorzüglich als Standort für eine eidgenössische Handelsakademie. Baumberger setzte sich mit Nachdruck für die Gründung dieser Anstalt ein.
In dieser Situation trat nun Theodor Curti (1848-1914) auf den Plan, der mit Recht als der eigentliche Gründer der Hochschule gilt. Curti hatte in Genf, Zürich und Würzburg Medizin und Rechtswissenschaften studiert. Curti war 1881-1902 Nationalrat, 1894-1902 Regierungsrat in St.Gallen (1898 und 1900 Landammann) und Vorsteher des volkswirtschaftlichen Departements.
Curti wurde am 24. September 1897 vom Regierungsrat beauftragt, die Frage einer Bewerbung von St.Gallen um den Sitz einer schweizerischen Handelsakademie ernsthaft zu prüfen. Das Modell einer eidgenössischen Handelsakademie stand zu diesem Zeitpunkt noch ganz im Vordergrund. Die Bundesverfassung von 1874 hatte in Art.27 der Bundesregierung die Kompetenz übertragen, ausser dem 1855 gegründeten Polytechnikum in Zürich (1911: ETH) «andere höhere Unterrichtsanstalten zu errichten oder (...) zu unterstützen». Curti hatte die Idee einer eidgenössischen Handelsakademie – allerdings mit Sitz im Kanton Tessin – bereits 1882 (also lange vor Bernet und Baumberger) verfochten. Er sah darin eine Schicksalsfrage für das Exportland Schweiz: «Was wir vollbringen können, ist: einen gut geschulten Kaufmannsstand zu erziehen, der sich an den Toren der fremden Welt Eingang zu verschaffen weiss – jugendliche Geister mit der ganzen Liebe zu den zivilisatorischen Aufgaben des Welthandels zu erfüllen und jenen Wechsel und jene Schwankungen erträglicher zu gestalten, welche schweizerische Fabrikarbeit von Zeit zu Zeit bedrohen». Dieses Tessiner Projekt wurde nicht verwirklicht.
1890 hatte der Schweizerische Kaufmännische Verein empfohlen, am Polytechnikum in Zürich eine «École supérieure de commerce» einzurichten (im Sinne der oben bereits angesprochenen Verbindung von Technik und Wirtschaft). Auch dieses Projekt ging davon aus, dass es heute selbstverständlich sei, von Juristen, Ärzten, Lehrern und Ingenieuren eine höhere Ausbildung zu verlangen, warum also nicht von den Kaufleuten?
In St.Gallen waren – wie schon dargestellt – Bernet (1895) und Baumberger (1897) für eine solche eidgenössische Handelsakademie in St.Gallen eingetreten. Für den Standort St.Gallen sprach nach Bernet die Bedeutung der Stadt für den Export. Auch Baumberger bevorzugte eine Gründung durch den Bund: denn «Handel und Industrie sind so gewaltige Faktoren im schweizerischen Erwerbsleben, die wirtschaftliche Fortexistenz des Gesamtstaates hängt so sehr von ihnen ab, dass er eine solche Anstalt errichten und unterhalten soll. Nur dann wird es möglich sein, ihr eine Ausdehnung und Ausstattung zu geben, deren sie bedarf; nur dann erhält sie auch den notwendigen allgemeinen Charakter». Baumberger prophezeite, dass diese Handelsakademie in jedem Falle kommen werde. Wenn St.Gallen sie nicht verwirklichen würde, werde Zürich diese Idee aufgreifen.
Warum die Hochschule schliesslich dann doch als eine kantonale und städtische Einrichtung zustande kam, scheint in erster Linie auf die eher ablehnende Haltung in Bern zurückzuführen zu sein. Die Realisierung einer Handelshochschule war in dieser Zeit etwas Neues und Unbekanntes, von dem man nicht wusste, wie es sich entwickeln würde. Nachdem verschiedene Kantone die Einrichtung von Handelsakademien diskutierten (Basel, Zürich, St.Gallen) sah der Bundesrat von der Errichtung einer eidgenössischen Anstalt ab und begnügte sich damit, die kantonalen Handelsschulen zu unterstützen. Die Entscheidung keine eidgenössische Hochschule in St.Gallen zu gründen, muss man auch unter einem gesamtschweizerischen Blickwinkel sehen. Denn diese Entscheidung bildete eine Zäsur für die folgenden Jahrzehnte, in denen der Bund überhaupt keine Hochschulgründungen vornahm. Der Bund unterhielt lediglich die ETH Zürich, während er die Universitäten (einschliesslich der Hochschule St.Gallen) den Kantonen überliess.
Der Auftrag des Regierungsrates an Curti ging nach wie vor von einer zu gründenden eidgenössischen Handelshochschule aus, die erst im Laufe der folgenden Monate durch eine andere Lösung ersetzt wurde. Curti leitete die «Specialkommission Handelsschule», in der die Vertreter des Kantons, des Industrievereins, des Kaufmännischen Directoriums, des Städtischen Gemeinderats und des Verwaltungsrats der Ortsbürgergemeinde sassen, unter ihnen auch die Initiatoren Bernet und Baumberger. In mehreren Sitzungen wurde der Entwurf vom 6. Mai 1898 vorbereitet, den der Grosse Rat am 25. Mai 1898 einstimmig (bei zwei Enthaltungen) beschloss: «Es wird in der Stadt St.Gallen eine Verkehrsschule und höhere Schule (Akademie) für Handel, Verkehr und Verwaltung errichtet». Die Ausgaben trugen nach Abzug des Bundesbeitrages zur Hälfte der Kanton, zur anderen Hälfte die politische Gemeinde, die Ortsgemeinde und das Kaufmännische Directorium St.Gallen. Die Schulvorlage war, ungeachtet der unterschiedlichen Ausgangspositionen und der politischen Differenzen, einmütig angenommen worden, was wohl nicht zuletzt dem Verhandlungsgeschick Curtis zu verdanken war.
Bereits ein Jahr nach ihrer Gründung wurde die nunmehr so benannte «Handelsakademie und Verkehrsschule St.Gallen» am 3. Mai 1899 in einer bescheiden gehaltenen Eröffnungsfeier ihrer Bestimmung übergeben.