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Meinungen - 04.03.2022 - 00:00 

Wahnsinn ernst nehmen – wie man populistischen Ideologen wie Putin begegnet

Die Befürworter einer freiheitlich-demokratischen Ordnung müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die Äußerungen und Forderungen autoritärer Populisten ernst zu nehmen sind und dass sich die Aussenpolitik darauf einstellen muss. Ein Meinungsbeitrag von Ole Frahm.

4. März 2022. Es ist Wahnsinn, schrieb ein Freund und Kollege aus Kiew am Morgen des 24. Februar 2022, als die russische Armee ihren Mehrfrontenangriff auf die Ukraine begann. Damit liegt er nicht falsch. Doch selbst wenn es Wahnsinn ist, Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk zu führen, rechtfertigt das nicht, dass man diesen Wahnsinn nicht ernst genommen hat, bevor es so weit kommen konnte. Warum sollte ein zynisch-rationaler Populist in ein Nachbarland einmarschieren, wenn es seinem eigenen Land, seinem Volk, seinem internationalen Ansehen und möglicherweise auch seiner Beliebtheit im eigenen Land nachhaltig schadet? Wie sich herausgestellt hat, ist der reine Machterhalt nicht das Einzige, was Putin am Herzen liegt.

Putins Aussenpolitik

Der rote Faden in Putins Aussenpolitik der letzten zwanzig Jahre ist der Versuch, den in seinen Augen katastrophalen Untergang der Sowjetunion wettzumachen, indem er eine russisch dominierte Einflusssphäre aufbaut, die in etwa der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken entspricht. Dieses oft geäusserte Ziel bedeutet also, dass die Länder des sogenannten Nahen Auslands wieder an Bord des Mutterschiffs Russland geholt werden. Die Ukraine steht auf der Liste des nahen Auslands nicht zuletzt deshalb ganz oben, weil das ukrainische Streben nach Unabhängigkeit ein mitentscheidender Auslöser für den Untergang der Sowjetunion war. Putin bedient sich dabei der traditionellen Vorstellung der Ukraine als «Kleinrussland», wenn er wie zuletzt vor wenigen Tagen betont, dass Ukrainer und Russen in Wirklichkeit ein Volk und ihre Aufteilung auf verschiedene Staaten nur das Ergebnis eines historischen Unfalls seien.

Doch falls die Ukraine nicht bereits zuvor für den Fiebertraum eines neoimperialen Russlands verloren war, so war sie es definitiv als Folge der russischen Aggression nach der Maidan-Revolution, die im Sturz des von Moskau unterstützten Janukowitsch gipfelte. Die russische Annexion der Krim und die De-facto-Besetzung des Donbass im Jahr 2014 haben die Mehrheit der Ukrainer in ihrer Ablehnung und sogar Feindschaft gegenüber Russland geeint. Und die Ukraine steht nicht allein damit, sich der Putinschen Umarmung zu entziehen. Die Völker fast aller ehemaligen Sowjetrepubliken, von den baltischen Staaten bis zur Republik Moldau, von Georgien bis Kirgisistan, haben sich Schritt für Schritt von Russland entfernt und richten ihren Kompass nach Brüssel, Berlin, Washington und Peking statt nach Moskau. Selbst Russisch als Verkehrssprache verzeichnet in den einstigen Teilrepubliken einen stetigen Niedergang.

Autoritäre Populisten ernst nehmen

Was also bleibt nach dem Ende des Krieges zu tun, ausser die zerbombten Städte und Leben in der Ukraine wieder aufzubauen? Die Befürworter einer freiheitlich-demokratischen Ordnung müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die Äußerungen und Forderungen autoritärer Populisten ernst zu nehmen sind und dass sich die Aussenpolitik darauf einstellen muss. Wenn ein Regierungschef wie Putin beharrlich damit droht, ein anderes Land anzugreifen oder ihm zu schaden, dann reicht es nicht mehr aus, dies als rein rhetorisches Bedienen der nationalistischen Galerie im eigenen Land abzutun. Die Aussenpolitik muss gegenüber derartigen Führern wieder auf vorübergehend eingemottete Instrumentarien zurückgreifen. An die Seite der Förderung wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Ziel gegenseitige Abhängigkeiten zu schaffen muss sich die glaubwürdige Drohung gesellen, im Zweifelsfall militärische Gewalt einzusetzen. So unangenehm es ist, dies zu schreiben: sich auf das Schlimmste vorzubereiten ist vielleicht das beste Mittel, um das Schlimmste zu verhindern.

Ole Frahm arbeitet über populistische Aussenpolitik, hybride Regime und die neuen internationalen Beziehungen Eurasiens. Zusammen mit Dirk Lehmkuhl veröffentlichte er jüngst «Populist Neo-Imperialism: A New Take on Populist Foreign Policy», in dem die These vertreten wird, dass Populisten aus ehemaligen imperialen Ländern, einschliesslich Russlands, eine sehr spezifische Aussenpolitik verfolgen, die darauf abzielt, die Vorherrschaft über ihre ehemaligen Herrschaftsgebiete wiederherzustellen.

Bild: Adobe Stock / Jonathan Stutz

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