Meinungen - 04.06.2024 - 09:00
Indien hat in den 77 Jahren seiner Unabhängigkeit achtzehn allgemeine Wahlen abgehalten – ein eher seltener Fall unter postkolonialen Entwicklungsländern. Trotz seinem über Jahrzehnte hinweg nicht ausgeschöpften wirtschaftlichen Potenzial hat die Tatsache, dass Indien eine Demokratie ist, dem Land in der internationalen Politik eine Anziehungskraft verliehen. Hinzu kommt, dass mit der Verschärfung der geopolitischen Rivalität zwischen China und den USA die strategische Bedeutung Indiens, insbesondere im indopazifischen Raum, zugenommen hat.
In den letzten Jahren hat Indien indes einen Rückfall in einen demokratischen Autoritarismus beziehungsweise eine Wahlautokratie erlebt. Die Art und Weise, wie die von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführte Regierung Modi in die derzeit stattfindende Wahl eingegriffen hat – Einfrieren von Bankkonten der Oppositionsparteien sowie Verhaftung von deren Führern, Disqualifizierung von Oppositionskandidaten –, markiert eine Abkehr von der Vergangenheit.
Diese keineswegs im Verborgenen durchgeführten Aktionen machen sichtbar, wie sehr in der Regierungspartei ein Gefühl von Straflosigkeit herrscht. Die BJP weiss, dass sie gute Chancen hat, für eine dritte Amtszeit wiedergewählt zu werden, und muss daher nicht befürchten, dereinst für Verstösse gegen die Gesetze zur Verantwortung gezogen zu werden.
Was ist von der nächsten Phase der indischen Politik zu erwarten?
Nehrus, des republikanischen Gründervaters, Traum von einem liberalen, zivilisierten und integren Indien bleibt eine Utopie, und es gibt kaum Anzeichen für die Hoffnung, dass sich dies ändert. Mögen die USA und ihre Verbündeten Indien auch um Unterstützung beim Ausgleich mit China bitten, wird Delhi nichtsdestoweniger weiterhin ohne grosse Skrupel handeln. In der Vergangenheit haben die USA zwar wegen der Atomtests von 1974 und 1998 Sanktionen gegen Indien verhängt, doch sind solche Massnahmen heute inopportun. Narendra Modi und die BJP bereiten sich auf den Rekord einer dritten Amtszeit vor, und die weltweite Stimmung gegenüber Indien bleibt weitgehend wohlwollend.
Wie demokratisch ist die «Mutter der Demokratie» (Modi) nach zehn Jahren BJP-Regierung? Die Eigentumsrechte sind gesichert, je nachdem, wer man ist. Die Regierungen in den von der BJP geführten Gliedstaaten haben nach Protesten und Vorfällen von religiöser Gewalt die Enteignung von Land in muslimischem Besitz veranlasst. Kritiker der Regierung, darunter führende Denkfabriken wie das Centre for Policy Research, internationale NGO wie Oxfam India und ausländische Medien wie die BBC mussten Razzien der Steuerbehörde über sich ergehen lassen. Obwohl die Kleinkorruption im letzten Dezennium deutlich zurückgegangen zu sein scheint, zeigt der Skandal um die Wahlanleihen, der Wochen vor den diesjährigen Parlamentswahlen ausbrach, dass von staatlicher Seite auf Unternehmen Zwang ausgeübt wurde, um «Spenden» zu erpressen.
Währenddessen haben der Kult der Regierung um den Hindu-Nationalismus sowie die häufigen Hassreden von BJP-Mitgliedern die religiöse Polarisierung des Landes verstärkt. Unter Indiens Minderheiten herrscht Angst. Die religiöse Gewalt hat in den letzten zehn Jahren zugenommen, und die Regierung greift immer häufiger auf Repression zurück. So ist Indien seit sechs Jahren weltweit führend in der Abschaltung des Internets. Die BJP hat sich auch zum führenden Verbreiter von Desinformationen entwickelt und manipuliert und verzerrt aktiv die Informationsströme.
Auch Modis autoritärer Regierungsstil hat sich inzwischen etabliert. Unter seiner Führung wurde die Macht zunehmend zentralisiert, und angesichts der Mehrheit der regierenden Nationalen Demokratischen Allianz im Parlament untersteht die Exekutive nur geringer Kontrolle. Gesetzentwürfe werden oft ohne Debatte verabschiedet, und die 17. Lok Sabha, die 2019 gewählt wurde, weist seit 1952 die wenigsten Arbeitstage auf. Als begnadeter Redner hat Modi Tausende von Ansprachen gehalten und zahlreiche Kundgebungen durchgeführt, aber er stand nie für eine Pressekonferenz zur Verfügung, und er hat während seiner zwei Amtszeiten keine einzige Frage im Parlament beantwortet.
Diese Dinge sind kein Geheimnis und für Indiens neue Partner angesichts der wirtschaftlichen Grösse und der strategischen Bedeutung des Landes von geringerer Bedeutung. Indiens Wirtschaft ist weiter gewachsen, das Pro-Kopf-Einkommen hat sich von 5000 Dollar im Jahr 2014 auf über 7000 Dollar 2022 gesteigert. Zudem wurde die extreme Armut beseitigt. Gleichzeitig bleibt jedoch die Arbeitslosigkeit ein hartnäckiges Problem. Die Erwerbsquote ist nach wie vor niedrig, insbesondere bei Frauen, und Indien weist gemäss Berichten den weltweit drittgrössten Anteil unterernährter Kinder auf.
Während Indiens riesige junge Bevölkerung eine enorme Jugenddividende verspricht, verfügt ein erheblicher Teil des Humankapitals nicht über die für hochqualifizierte Arbeitsplätze erforderliche Bildung oder Ausbildung. Die Qualität der Schulen und die unzureichende Infrastruktur sind nach wie vor ein Hauptproblem.
Trotz erodierenden demokratischen Institutionen, zunehmender sozialer Spaltung und erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen bewegt sich Indien heute selbstbewusster und entschiedener auf der Weltbühne. Die indische Aussenpolitik ist muskulöser geworden, und die indische Regierung wehrt sich lautstark gegen westliche Kritik an ihrer Menschenrechtsbilanz, die sie als Einmischung in innere Angelegenheiten oder als Ausdruck von kolonialem Denken betrachtet. Angesichts der wachsenden strategischen Bedeutung Indiens werden seine Stabilität und sein Wohlstand für die Aufrechterhaltung der regionalen Sicherheit von entscheidender Bedeutung sein.
Nach einem Jahrzehnt BJP-Regierung unter Modi ist klar, was das massgebliche Bestreben der Führung ist: die Ausbreitung der Hindutva-Ideologie, die Erhöhung des Wohlstands sowie Subventionen und die Entwicklung der Infrastruktur des Landes. So soll die Regierung in den letzten zehn Jahren mehr als 400 Milliarden Dollar für Direktzahlungen an über 900 Millionen Menschen und in den letzten drei Jahren mehr als 300 Milliarden für Infrastruktur ausgegeben haben. Solches wird auch weiterhin eine Priorität der Regierung sein. Während seines Wahlkampfes hat Modi im März Infrastrukturprojekte im Wert von 15 Milliarden Dollar genehmigt.
Sollte die BJP, wie allgemein erwartet, aus eigener Kraft eine klare Mehrheit im Parlament gewinnen (das heisst: mehr als 272 Sitze), könnte sich die Regierung in ihrer dritten Amtszeit auf umstrittenere Reformen konzentrieren. Nachdem sie bereits zentrale Versprechen wie den Bau des umstrittenen Ram-Tempels in Ayodhya und die Änderung des verfassungsrechtlichen Status von Kaschmir eingelöst hat, dürften die nächsten wichtigen Punkte auf der Tagesordnung die Durchsetzung eines einheitlichen Zivilgesetzbuchs, die Ziehung der Wahlkreise und die gleichzeitige Abhaltung von Wahlen auf zentraler und bundesstaatlicher Ebene sein. In Sachen Wirtschaft wird Modi womöglich versuchen, die umstrittenen Agrarreformen wieder in Angriff zu nehmen. Es geht darum, die Investitionen der Unternehmen im Agrarsektor zu erhöhen und so die Löhne in der Landwirtschaft und auf dem Land zu steigern. Diese sind in der zweiten Amtszeit der BJP gesunken.
Die Regierung wird auch das Projekt «Make in India» weiter vorantreiben. Die Ausweitung des verarbeitenden Gewerbes, das derzeit nur etwa 17 Prozent des BIP ausmacht, wird der Schlüssel zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Steigerung der indischen Exporte sein. Für internationale Unternehmen, die ihr Risiko gegenüber China verringern und ihre Lieferketten diversifizieren wollen, scheinen Investitionen in Indien eine erfolgreiche Strategie. Da die Modi-Regierung einen Schwerpunkt auf die Ausweitung der Digitalisierung legt sowie ehrgeizige Ziele im Bereich der sauberen Energie verfolgt, bietet Indien für westliche Firmen auch hier einen lukrativen Markt.
In der Aussenpolitik wird Delhi weiterhin strategische Autonomie anstreben, auch wenn es für das Land immer schwieriger wird, engere Beziehungen zu den USA und ihren Verbündeten aufzubauen und zugleich die historisch intensiven Beziehungen zu Russland beizubehalten. Trotz den wachsenden wirtschaftlichen und strategischen Bindungen an den Westen aufgrund konvergierender Interessen wird Indien auch weiterhin formale Bündnisse ablehnen. Zusätzlich könnten sich Handelsstreitigkeiten und protektionistische Massnahmen als Hindernisse erweisen.
Die Verantwortung für die Entwicklung engerer Beziehungen liegt jedoch auch beim Westen, dessen Glaubwürdigkeit nicht selten durch seine Heuchelei beschädigt erscheint. So etwa pflegen die USA intensive Partnerschaften mit Ländern, die sich grobe Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen lassen und/oder demokratische Defizite aufweisen. Erwähnt seien Pakistan und Saudiarabien, aber auch Israel. Indien in dieser Hinsicht zu kritisieren, wird als Verletzung der nationalen Souveränität empfunden werden und kaum positive Effekte zeitigen.
Das Jahrzehnt unter Modis Führung umfasst eine komplexe Mischung aus Erfolgen und Problemen. Mit Blick auf die Zukunft wird die nächste Phase der indischen Politik sowohl im Inland als auch im Ausland genau beobachtet werden. Der Fokus der BJP auf umstrittene Reformen, auf wirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau der Infrastruktur wird den Weg des Landes prägen. Die Fähigkeit Indiens, demokratische Prinzipien aufrechtzuerhalten, integratives Wachstum zu fördern und seine strategische Autonomie zu bewahren, wird über die künftige Stabilität und den Wohlstand des Landes entscheiden.
Unabhängig von der jeweiligen Regierung in Neu-Delhi sollte ein Land von Indiens Grösse mit dem Führungsanspruch im globalen Süden mehr Mitspracherecht in der Weltpolitik besitzen. Auch der Westen braucht Indien und sollte Delhi daher nicht nur als gleichwertigen Partner behandeln, sondern ihm auch greifbare Vorteile anbieten.
Das heutige Indien ist nicht mehr das Indien, das an die Sanftheit Gandhis oder die Höflichkeit Nehrus glaubt; es ist dies das neue Indien der BJP, das eine aggressive Maskulinität pflegt und darauf aus ist, unbedingt zu gewinnen. Ist ein wohlhabendes, aber undemokratisches Indien ein Preis, den die Welt für ihren strategischen Vorteil zu zahlen bereit ist? Mit dieser Frage werden sich die führenden Politiker des Globus, aber auch die indischen Bürger selbst in den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen.
Dr. Manali Kumar ist Postdoktorandin am Institut für Politikwissenschaft der Universität St.Gallen (HSG) und Chefredakteurin von 9DASHLINE. In ihrer Forschung untersucht sie, ob und wie sich Indiens nationale Identitäten und Interessen mit dem Aufstieg des Landes zu einer aufstrebenden Macht verändert haben.
Dieser Text erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung am 3. Juni 2024:
Indien am Scheideweg: eine Bilanz von zwei Amtszeiten Narendra Modis
Bild: Adobe Stock / muhammad
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