Forschung - 20.02.2024 - 14:00
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hatte negative Folgen für das kollektive Wohlbefinden in verschiedenen Ländern. Mit Blick auf die Erholung von diesem Schock sind jedoch individuelle Persönlichkeitsmerkmale massgebend. Zu diesen Ergebnissen kommt ein internationales Forscherteam unter der Leitung der Psychologen Julian Scharbert und Prof. Dr. Mitja Back der Universität Münster. Die Studie beruht auf etwa 45’000 Einzelerhebungen von 1300 befragten Personen aus 17 europäischen Staaten, an der über 50 Forschende beteiligt waren. HSG-Professor Clemens Stachl hat an der Studie mitgearbeitet und die Daten für die Schweiz erhoben. Sie wurde jetzt im Fachjournal «Nature Communications» veröffentlicht.
Die von Ende 2021 bis Sommer 2022 durchgeführte Studie ermöglichte eine Untersuchung der täglichen Stimmungsverläufe in den Wochen des Kriegsausbruchs. «Normalerweise ist es nicht möglich, derart einschneidende Ereignisse in einem präzisen Zeitfenster bei gleichzeitiger geografischer Breite zu untersuchen», ordnet Mitja Back die Relevanz ein. Die Daten seien einzigartig. Die Forschenden konzentrierten sich auf Menschen in Europa und einen zweimonatigen Zeitrahmen um den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022.
Die Untersuchung mit Fokus auf der mentalen Gesundheit fügt der Debatte über humanitäre, politische und ökonomische Folgen des Krieges eine weitere Dimension hinzu. Während das Wohlbefinden vor dem Kriegsausbruch stabil war, kam es am Tag der russischen Invasion zu einem kollektiven Abfall. Mit Blick auf die Erholung von dieser Erschütterung stiessen die Forschenden hingegen auf systematische Unterschiede. «Menschen mit einer anfälligeren, wenig stabilen Persönlichkeit haben sich im Unterschied zu gefestigteren Personen im Schnitt auch einen Monat nach Kriegsbeginn noch nicht erholt», erläutert Julian Scharbert, Doktorand und Erstautor der Studie.
«Neben den offensichtlichen Folgen des Krieges wie Flucht oder unterbrochene Versorgungsketten gibt es eine weniger offensichtliche Dimension: die Auswirkungen der täglichen Nachrichten und Bilder auf die Psyche», sagt Studienautor Julian Scharbert von der Universität Münster. «Unsere Daten weisen darauf hin, dass politische und gesellschaftliche Akteure in Krisenzeiten auch die mentale Gesundheit in den Fokus nehmen sollten – besonders von Menschen, die ohnehin anfälliger für Belastungen sind.» Menschen in der Ukraine und Russland würden psychisch vermutlich ungleich höher belastet sein, zu diesen Ländern lägen allerdings keine Daten vor.
In der Schweiz erwies sich die Datenerhebung als besonders herausfordernd, weil sich nur wenige Menschen beteiligten. Aufgrund der kleinen Fallzahl lassen sich auch keine nationalen Ergebnisse für die Schweiz ableiten, ergänzt HSG-Forscher Clemens Stachl, Direktor des Instituts für Behavioural Science und Technologie an der Universität St.Gallen (IBT-HSG). «Dennoch kann man sagen, dass das Thema Wohlbefinden hierzulande sehr relevant ist. Schweizer Bürger:innen berichten generell über eine sehr hohe Lebenszufriedenheit. Demgegenüber lässt sich in der westlichen Welt durchgängig ein Trend erkennen: Die Lebensqualität ist objektiv gesehen zwar hoch, wird subjektiv aber nicht so von den Menschen wahrgenommen.» Gerade die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität sei aber entscheidend dafür, wie sich Menschen wirklich fühlten. «In meinem Lab an der HSG haben wir hierzu ein Schwerpunktthema gesetzt und werden subjektives Well-being in den nächsten Jahren in einem grossen SNF-Forschungsprojekt untersuchen», erklärt Clemens Stachl.
Weitere Informationen zur Studie:
Julian Schabert et al. (2024): Psychological well-being in Europe after the outbreak of war in Ukraine. Nature Communications; DOI: 10.1038/s41467-024-44693-6
Originalveröffentlichung in «Nature Communications» unter:
Psychological well-being in Europe after the outbreak of war in Ukraine (nature.com)
Bild: Unsplash / Mitch
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