Forschung - 14.12.2023 - 09:47
Christian Opitz, vor einem Jahr war die Strommangellage noch in aller Munde. Es gab eine grosse Energiesparkampagne des Bundes. Heute hört man nicht mehr so viel darüber. Inwiefern hat sich die Lage gegenüber dem Vorjahr verändert?
Zumindest kurzfristig hat sich die Lage im Vergleich zum Vorjahr etwas entspannt: Der Füllstand der Schweizer Speicherseen lag Anfang Dezember 2023 bei rund 80 Prozent und damit rund fünf Prozentpunkte über dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Gleichzeitig beträgt die verfügbare Leistung der französischen Kernkraftwerke rund 40 GW, bis Ende Dezember sollte diese planmässig auf bis zu 56 GW steigen. Zum Vergleich: Zur Jahreswende 2022/23 lag die Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke lediglich bei rund 36 GW. Aufgrund der hohen Importabhängigkeit von Frankreich insbesondere in den Wintermonaten ist die französische Kernkraft für die Versorgungssicherheit der Schweiz demzufolge von grosser Bedeutung. Zudem hat der Bund eine Stromreserve als Absicherung gegen ausserordentliche Stromversorgungsengpässe in den Wintermonaten eingerichtet. Hierzu gehören neben einer Wasserkraftreserve auch Reservekraftwerke in Birr, Cornaux und Monthey sowie gepoolte Notstromgruppen. Die aktuelle Situation darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass mittel- bis langfristig enorme Herausforderungen bei der Stromversorgungssicherheit bestehen bleiben. Neben den bis dato unklaren zukünftigen Importmöglichkeiten von Strom aus der EU sind hierbei vor allem Tempo bzw. Ausmass des Erneuerbaren-Ausbaus in der Schweiz bei gleichzeitiger Substitution fossiler durch elektrischer Anwendungen, insbesondere bei Mobilität und Wärme, sowie die Verfügbarkeit der alternden inländischen Kernkraft zu beachten.
Auch das Gas drohte letztes Jahr knapp zu werden. Wie sieht es diesbezüglich aktuell aus?
Da in Europa Gaskraftwerke für die Stromproduktion enorm wichtig sind – im Jahr 2022 wurde knapp ein Sechstel des Stromes mit deren Hilfe produziert – spielt die Verfügbarkeit von Gas immer noch eine bedeutende Rolle für die europäische Stromversorgungssicherheit. Aufgrund der starken physischen Integration der Schweiz in den europäischen Strommarkt – in einzelnen Stunden werden beträchtliche Teile der nationalen Produktion exportiert, in anderen dagegen enorme Anteile des Verbrauchs importiert – spielen diese jedoch auch für die Schweizer Versorgungssicherheit eine zentrale Rolle. Doch auch hier hat sich die Lage gegenüber dem Vorjahr etwas entspannt: Die Gasspeicherstände in Nordwesteuropa lagen Anfang Dezember knapp unter 95 Prozent der maximalen Füllung und damit deutlich über dem Mittelwert der vergangenen fünf Jahre von 84 Prozent.
Sie sagen, die Gasspeicher in Europa sind voll. Welche Szenarien gibt es dafür, wie lange dieses Gas ausreichen würde?
Die Speicherung von Gas ist für die Versorgungssicherheit in Europa von entscheidender Bedeutung. Da Gasspeicher bis zu einem Drittel der Gasnachfrage im Winter decken können, hat die Europäische Kommission eine Füllstandsquote von 90% bis zum 01. November 2023 festgelegt; diese Marke konnte erfreulicherweise bereits am 18. August erreicht werden. Um eine flexible Nutzung der Gasinfrastruktur zu ermöglichen und eine Wiederbefüllung für den Winter 2024/25 sicherzustellen, sind jedoch ausreichende Speicherniveaus bis zum Ende des Winters entscheidend – als Zielwert gilt hierfür eine Füllstandsquote von 30 Prozent in allen europäischen Speichern für Ende März 2024. Der Verband Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas hat mehrere Szenarien untersucht, wie sich im Winter 2023/24 die Versorgungssicherheit in Europa entwickeln könnte. Bei einem vollständigen Unterbruch russischer Gaslieferungen würden im Falle eines besonders kalten Winters zusätzliche Massnahmen erforderlich sein, um Nachfragekürzungen abzumildern und in bestimmten Nachfragesituationen Flexibilität für die Monate mit hoher Nachfrage sicherzustellen. Als mögliche Massnahmen sind hierbei – falls auf den Weltmärkten verfügbar – zusätzliche Lieferungen von Flüssiggas (LNG) bzw. Gaseinsparungen in Höhe von 15 Prozent der durchschnittlichen Nachfrage denkbar.
In Europa hat man sich von Russland als Gaslieferanten abgewendet. Woher kommt das neue Gas in den europäischen Speichern?
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich die Europäische Kommission mit ihrem Plan REPowerEU zum Ziel gesetzt, die Energieversorgung zu diversifizieren und damit ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland zu verringern. Mit beachtlichem Erfolg: Stammten im August 2021 noch 41 Prozent aller Gasimporte aus Russland, so betrug dieser Anteil im September 2022 nur noch 8 Prozent. Damit lagen Russlands Gasexporte in die europäischen OECD-Länder auf den niedrigsten Stand seit Mitte der 1980er Jahre.
Auf dem Schiffsweg über weite Strecken transportierbares Flüssiggas (LNG) spielte eine Schlüsselrolle bei der (teilweisen) Kompensation von wegfallendem russischen Pipelinegas. Zwei Drittel der zusätzlichen LNG-Importe nach Europa lieferten 2022 allein die USA, aber auch die norwegischen Pipelineimporte konnten leicht ausgebaut werden. Das bis Ende November 2023 in der EU verbrauchte bzw. gespeicherte Gas basierte zu rund 40 Prozent auf LNG. Das restliche Pipelinegas stammte grösstenteils aus Norwegen (28 Prozent) und Algerien (10 Prozent) – ein kleiner Teil wird jedoch noch immer (vor allem über die ukrainische Transitroute) aus Russland importiert.
Im letzten Jahr gab es in der Schweiz unter dem Eindruck der drohenden Strommangellage auf politischer Ebene Bestrebungen, die Energiewende schneller voranzutreiben. Ist die Schweiz nun etwas weniger abhängig von fossilen Energieträgern?
Den offiziellen Statistiken des Bundes zufolge lag im Jahr 2022 der gesamte erneuerbare Anteil am schweizerischen Endenergieverbrauch lediglich bei rund 26 Prozent, wohingegen sich die Endverbraucher-Ausgaben für Erdöl, Gas und Kohle zusammen auf 22.7 Mrd. Franken oder etwa 2.9 Prozent des BIP summierten. Das im Klima- und Innovationsgesetz nun fest verankerte Netto-Null-Ziel 2050 wird uns demzufolge noch vor enorme Herausforderungen stellen. Ob die drohende Energiemangellage die Transformation unseres Energiesystems begünstigt – beziehungsweise diese eventuell sogar behindert – hat, kann zum heutigen Zeitpunkt nicht final beantwortet werden.
Als erfreulich kann jedoch der Kompromiss des Parlaments in der vergangenen Herbstsession zum sogenannten Mantelerlass gewertet werden, der einen verstärkten Zubau inländischer erneuerbarer Stromproduktionskapazitäten vorsieht. Ein kürzlich veröffentlichter Monitoringbericht zur Umsetzung der Energiestrategie 2050 mahnt jedoch weitere Anstrengungen an, um die im Gesetz verankerten neuen Inlandproduktions- und Verbrauchsziele zu erreichen. Dies verdeutlicht, dass ambitionierte politische Zielsetzungen allein nicht ausreichen, um die Energiewende schneller voranzutreiben. Mindestens ebenso wichtig ist unter anderem die gesellschaftliche Akzeptanz, wo insbesondere beim Ausbau der Windkraft noch sehr viele Ängste, Widerstände und Vorurteile existieren.
Haben die Hausbesitzenden durch die Eindrücke des letzten Winters selber vermehrt auf erneuerbare Heizsysteme wie etwa Wärmepumpen umgestellt?
Zahlen der Fachvereinigung Wärmepumpen Schweiz zufolge sind die Verkaufszahlen von Wärmepumpen 2022 um etwa 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf rund 41'000 Stück angestiegen. Problematisch ist jedoch, dass sich Wärmepumpen in eher tieferen Leistungsbereichen wie Einfamilienhäusern durchgesetzt haben, in den höheren Leistungsbereichen jedoch noch immer Öl und Gas dominieren. Ein Anteil von knapp 56.8 Prozent fossiler Heizsysteme bei den Wohngebäuden im Jahr 2022 belegt eindrücklich, dass im Wärmebereich in Sachen Netto-Null noch erhebliches Potenzial besteht.
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