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Campus - 19.12.2017 - 00:00 

Kalle in Verantwortung, Wirtschaft in Verantwortung

Kalle, ein vier Monate alter Neu-Bürger St.Gallens, ist ein Blindenführhund in Ausbildung. Sein Herrchen, Professor für Wirtschaftsethik an der HSG, beschreibt in diesem Gastbeitrag dessen künftige Tätigkeiten und zieht Analogien zu unseren Verantwortungen in Wirtschaft und Gesellschaft.

19. Dezember 2017. Den St.Galler Bürgerinnen und Bürgern ist der kleine Racker in den letzten Wochen womöglich schon begegnet. Kalle, ein vier Monate alter Labrador-Welpe, ziert eine markante orangefarbene Schärpe der Stiftung Ostschweizerische Blindenführhundeschule, denn er soll nach seiner Ausbildung einmal einem sehbehinderten Menschen durch den Alltag helfen. Ich selbst bin Hundepate und betreue Kalle für etwa ein Jahr, bevor er daran anschliessend von einem professionellen Instruktor oder einer Instruktorin für Blindenführhunde auf seine künftige Aufgabe vorbereitet wird. Von meinem Arbeitgeber, der Universität St.Gallen, habe ich eine Genehmigung, Kalle bei meinen Tätigkeiten in Forschung und Lehre mitführen zu dürfen. «Hunde am Arbeitsplatz» heisst das entsprechende Formular in der Amtssprache. Und Kalle ist fast überall dabei: bei Vorlesungen, Sitzungen, Vorträgen, internationalen Konferenzen usw. usf.

«Sag mal, was musst du dem Hund denn so beibringen?»

Mich fragte neulich ein Kollege: «Sag mal, was musst du dem Hund denn so beibringen?» Ich antwortete etwas schnell und frech: «Im Grunde ist es wie mit unseren Studenten: Sitz, Platz und nicht in die Wohnung pinkeln.» Der Kollege schmunzelte in dem Wissen darum, dass ich mitunter zynisch sein kann und auch, dass sich dieser flapsige Kommentar nicht gegen unsere Studierenden richtet, sondern auf Teile des Curriculums anspielt, die mir noch zu sehr auf ein angepasstes Auswendiglernen denn ein kritisches Reflektieren ausgerichtet sind.

Die Angelegenheit ist jedoch komplizierter – sowohl in Sachen Blindenführhund-Ausbildung als auch in Punkto Studium und darüberhinausgehend – als es dieser kurze Dialog erscheinen lässt. Worauf kommt es bei der Ausbildung von Kalle und seinen Freunden an und was lässt sich daraus für die Bildung (und nicht nur Ausbildung) von Studierenden und ihren künftigen Tätigkeiten in Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft lernen?

Kalle und der (positive) Unterschied in der Gesellschaft

Erstens, Blindenführhunde sind «Nutz-Hunde» oder «Service-Hunde», so die sehr sachlichen Klassifikationen dieser Art von Tieren. Die Nüchternheit dieser Worte werde ich etwas später zurücknehmen, aber sie deutet in einem ersten Schritt auf etwas Wichtiges hin: Kalle soll irgendwann einen (positiven) Unterschied in dieser Gesellschaft machen; hier: konkret einem sehbehinderten Menschen helfen. Im übertragenen Sinne gilt dies für Studierende als künftige Führungskräfte und für uns alle ganz analog. Die Betonung liegt dabei auf dem Passus «in dieser Gesellschaft». Nicht ein Partikular-Interesse einzelner Akteure ist zentral, z.B. die Gewinnmaximierung von Unternehmen. Will eine Wirtschaft nicht «jeder gegen jeden», sondern im wahrsten Sinne des Wortes «lebensdienlich» (dem «Leben dienend») sein, dann geht es um einen «Service» für die Gesellschaft.

Ohne das Einhalten von Regeln funktioniert kein Gespann

Zweitens, Sie können sich vermutlich vorstellen, dass von Blindenführhunden ein hohes Mass an Disziplin verlangt wird. Entsprechend werden in der Ausbildung Regeln trainiert und etabliert, die es unbedingt einzuhalten gilt. Vor Fussgängerüberwegen oder Treppen anhalten, um diese anzuzeigen, ein geordnetes Einsteigen in Busse und Bahnen oder das «Geschäft» nicht auf dem Trottoir zu erledigen, sind nur einige Beispiele, deren Missachtung zu Ärger bis hin zu handfesten Gefahren führen können. Ohne das Einhalten von Regeln funktioniert kein Gespann. Ohne das Einhalten von rechtlichen und moralischen Regeln funktioniert keine Organisation und keine Gesellschaft. Diverse Unternehmensskandale der letzten Jahre erwecken den Eindruck, manche Menschen und manche Unternehmen interpretieren rechtliche und moralische Anforderungen eher als Vorschläge denn als Pflicht, gemäss diesen zu handeln. Ein Mensch-Hund-Gespann kann sich dies nicht leisten. Unsere Gesellschaft kann es sich ebenso wenig leisten.

Intelligenter Ungehorsam

Doch geht es, drittens, nur darum sich an definierte Regeln zu halten? Eine sehr faszinierende Fähigkeit ausgebildeter Blindenführhunde ist der sogenannte intelligente Ungehorsam. Dabei widersetzt sich der Hund bewusst dem Befehl des Frauchens oder Herrchens, wenn er eine übergeordnete Gefahr wahrnimmt. Zum Beispiel: Die Ampel signalisiert den freien Überweg, ein Autofahrer kommt jedoch zu spät zum Stillstand oder übersieht das Rotsignal vollends. Intelligenter oder – mit Bezug auf unsere menschlichen Handlungsgemeinschaften – ziviler Ungehorsam zum Zwecke einer eben wirklich zivilen Gesellschaft ist wichtig, denn verantwortliches Handeln bedeutet nicht die Abarbeitung von Regeln, sondern beinhaltet immer auch eine individuelle Reflektion über richtig und falsch, über Gut und Böse. Ethik ist nicht «Dienst nach Vorschrift», so wichtig ordnende Regeln auch sind. Weder beim Hund noch beim Menschen handelt es sich damit im Grunde um ein Ungehorsam, sondern um eine Verbundenheit zum Anderen und zum richtigen Handeln.

Menschliche Beziehungen machen ein Leben lebenswert

Viertens, Jorge Moreno, Geschäftsführer der Stiftung Ostschweizerische Blindenführhundeschule fragte mich einmal: «Was ist das Wichtigste bei der Ausbildung und späteren Arbeit der Hunde?» Ich überlegte und zögerte; er half mir schnell weiter. «Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Mensch und Hund», lautete seine Antwort. Deshalb sind Blindenführhunde nicht nur Nutzhunde. Da hätte ich selbst drauf kommen können, denn es verhält sich in Wirtschaft und Gesellschaft nicht anders. Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden nur als Human Ressource sehen und entsprechend nur als einen Produktionsfaktor behandeln, handeln ökonomisch verkürzt und verantwortungslos. Kunden, die kein Vertrauen in eine sachlich und fachlich korrekte Beratung bei ihrer Bank haben, gehen mittelfristig zur Konkurrenz. Studierende, die isoliert ihr Studium abreissen, und ihre Abschlussnote mit geringstmöglichem Aufwand maximieren, sind an einer Hochschule schlichtweg fehl am Platz. Menschliche Beziehungen machen ein Leben lebenswert, und sie fordern von jedem Einzelnen von uns auch, sich stets mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich zu hinterfragen und ein Stück weit voranzukommen.

Eine im Englischen geläufige Bezeichnung für einen Blindenführhund lautet «seeing eye dog», welch schöne Bezeichnung für das, um was es in mehreren Hinsichten geht: Sensibel und wahrnehmend mit anderen durch die Welt gehen, sich dabei an fundamentale Regeln halten, aber nicht die Augen vor Missständen verschliessen, sondern stattdessen engagiert die Stimme erheben: wauwau!

Thomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen.

Weitere Informationen zur Blindenführhundausbildung:

Die Stiftung Ostschweizerische Blindenführhundeschule (OBS) mit Sitz in Goldach am Bodensee bildet seit 1997 Blindenführhunde aus. Die Kosten für die gut zweijährige Ausbildung eines Hundes belaufen sich auf rund 60‘000 Franken. Hundepaten engagieren sich ehrenamtlich.

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