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Hintergrund - 15.04.2020 - 00:00 

COVID-19 in Brasilien

Die grössten Sorgen bereiten den öffentlichen Verwaltungen und Gesundheitsexperten die Zustände in informellen Siedlungen (Favelas), an denen wesentliche öffentliche Güter kaum oder gar nicht vorhanden sind. Das St.Gallen Institute of Management in Lateinamerika berichtet über die lokale COVID-19 Situation. Von Prof. Dr. Vanessa Boanada Fuchs aus São Paulo, Brasilien.

 

15. April 2020. Am 24. Februar – am selben Tag wie in der Schweiz – wurde in Brasilien der erste Fall von COVID-19 gemeldet. Es war ein 61-jähriger Mann, der in São Paulo, der grössten südamerikanischen Metropole, lebte. Seitdem hat die Verbreitung des Virus im Land langsam zugenommen und die Nachbarstaaten erreicht. In Brasilien wurden bis heute (14. April 2020) 25.262 Ansteckungen und 1532 Todesfälle durch das neue Coronavirus bestätigt. Trotz der vergleichsweise geringen Anzahl an Fällen wird erwartet, dass die Dunkelziffer angesichts des unterdurchschnittlichen Benachrichtigungsniveaus und den fehlenden Materialien, die für zuverlässige Tests erforderlich sind, deutlich höher liegt. Die aktuelle Projektion des COVID-19 Ansteckungsverlaufes in Brasilien zeigt, dass der Höhepunkt wohl erst zwischen Ende April und Anfang Mai erreicht werden wird.

Die Reaktionen auf Bundesstaatsebene

Am 16. März begannen die Regierungen der Bundesstaaten und Gemeinden restriktive Massnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung umzusetzen. Insbesondere São Paulo hat seinen Einwohnern soziale Isolation auferlegt und die Schliessung nicht wesentlicher kommerzieller Aktivitäten und Dienstleistungen, einschliesslich Krippen, Schulen und Universitäten, angeordnet. Die Aktivitäten unseres Instituts wurden entweder temporär ausgesetzt (Gastprofessuren, Besuche der Schweizer Regierungsdelegation) oder auf online umgestellt. Aufgrund der Anordnung, aus dem Home-Office zu arbeiten, finden unsere eigenen Kursen wie auch die unserer Partneruniversitäten weitgehend über IT-Tools wie Zoom, Canvas und Teams statt.
 

São Paulo, ein Bundesstaat mit 46 Millionen Einwohnern (22 Millionen allein in der Metropolregion) und schätzungsweise 100.000 öffentlichen und privaten Krankenhausbetten (davon 7.200 Intensivbetten), hat Initiativen eingeleitet, um die Kurve abzuflachen, zusätzliche Zeit zu gewinnen und das Gesundheitssystem für die Welle an Erkrankungen fit zu machen. Bisher wurden zwei Fussballstadien in Feldkrankenhäuser umgewandelt. Bis Ende April werden dadurch 2.000 zusätzliche Kranken- und 1.400 Intensivbetten exklusiv für Coronavirus-Patienten geschaffen.

Die opportunistische Politisierung von Ungleichheit und ein isolierter Präsident

Die grössten Sorgen mit Blick auf die Zukunft bereiten den öffentlichen Verwaltungen und Gesundheitsexperten die Zustände in informellen Siedlungen (Favelas), sobald das Virus jene Orte erreicht, an denen wesentliche öffentliche Güter kaum oder gar nicht vorhanden sind. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit könnte kritisch werden und zum Zusammenbruch des Universellen Öffentlichen Gesundheitssystems (SUS in Brasilien) führen, welches bereits vor Beginn der Pandemie zu 90-95% ausgelastet war. Die Lokalregierungen fordern eine einheitliche Reaktion der Bundesregierung auf die unmittelbar bevorstehende Krise, stossen aber auf taube Ohren.
 

Präsident Jair Bolsonaro bezeichnete die COVID-Situation konsequent und im direkten Widerspruch zu den Empfehlungen der WHO als «nichts als eine kleine Grippe». Die öffentliche Verantwortung spielte er entgegen den Empfehlungen seines eigenen Gesundheitsministers herunter. Der Regierungschef war auf der Suche nach einem Sündenbock für die bereits rückläufige Wirtschaftsleistung während seines ersten Amtsjahres (das BIP stieg um 1,1% und lag damit unter den von seinen Wirtschaftsberatern versprochenen 3,5%). COVID-19 wurde zum willkommenen Vorwand. Bolsonaro hat die Kampagne «Brasilien kann nicht aufhören» ins Leben gerufen, die vergleichbar ist mit den in Mailand propagierten Argumenten: Die Kampagne basiert auf einer Nullsummenargumentation, nach der die wirtschaftlichen Anliegen und die öffentlichen Gesundheitsinteressen sich gegenseitig ausschliessen.
 

Diese öffentlichen Auftritte und Kampagnen führten zu politischen und rechtlichen Kämpfen zwischen den verfassungsmässigen Gewalten und letztendlich zu einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Diese veranlasste eine sofortige Einstellung der Kampagne «Brasilien kann nicht aufhören» und befugte gleichzeitig die Lokalregierungen, ihre restriktiven Massnahmen beizubehalten. Folglich wurde der Präsident isoliert (politisch, nicht sozial, weil er weiterhin Menschen ohne Schutzvorkehrungen auf der Strasse begrüsst und Social-Media-Beiträge darüber verfasst). Twitter, Facebook und Instagram haben damit begonnen, Beiträge des Präsidenten zu löschen, die gegen das allgemeine Interesse der öffentlichen Gesundheit gerichtet waren.
 

Selbst das organisierte Verbrechen und die Miliz in den Favelas von Rio de Janeiro scheinen die aktuelle Lage besser einschätzen zu können und implementieren Ausgangssperren, um grössere Menschenansammlungen in den Strassen zu verhindern. Sie haben verstanden, dass sie ihre Aktivitäten umso schneller wieder aufnehmen können, je früher der Gesundheitsnotstand beendet ist.
 

In der Zwischenzeit hat der brasilianische Kongress dem Präsidenten politische Daumenschrauben angelegt, um ähnliche Soforthilfepakete wie in Europa und den USA zu schnüren. Ein spezielles Hilfsprogramm für die wirtschaftlich Schwächsten wurde genehmigt, um deren Isolationsbemühungen zu unterstützen. Das Paket beinhaltet direkte Auszahlungen an informelle Arbeitnehmer für die kommenden drei Monate. Es ist eine absolute Notwendigkeit, dass echtes Geld in die Taschen der ärmsten Familien gelangt. Die einzige Alternative wäre, zur Arbeit und zu den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzukehren, in denen der Virus einen so fruchtbaren Boden für seine Ausbreitung findet.

Soziale Unruhen und die langfristigen Kosten eines Überwachungsstaates

Um die wirtschaftlichen Herausforderungen mit der Bewältigung einer öffentlichen Gesundheitskrise in Einklang zu bringen, sind weltweit weitreichende staatliche Reaktionen und direkte Eingriffe notwendig. Eingriffe, die die Komfortzone der meisten liberalen Staaten und deren globalisierter Bevölkerung sprengen. Darüber hinaus erleben wir vielerorts die Entwicklung (und die gesellschaftliche Akzeptanz) von invasiven Polizei- und Überwachungsstaatsapparaten in unterschiedlichem Masse – vom Verbot von Demonstrationen bis hin zur Überwachung der Standortdaten von Mobiltelefonen.
 

In soliden Demokratien erwartet man, dass diese Massnahmen nach Beendigung der Krise zurückgenommen werden. In Ungarn hat ein gleichgesinnter Kollege von Bolsonaro, Präsident Victor Orban, die bürgerlichen Freiheiten im Namen der öffentlichen Sicherheit und der Bekämpfung der Gesundheitskrise stark eingeschränkt. Dieser Präzedenzfall und die nicht allzu weit zurückliegende Geschichte der fragilen Demokratien Lateinamerikas zwingen uns die Frage auf, was in dieser Region der Welt auf uns zukommt. Wenn die Kurve nicht schnell genug abgeflacht und die bevorstehenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen länger anhalten, müssen wir uns leider mit sozialen Unruhen und den bitteren Gegenmassnahmen, um diese langfristig einzudämmen, auseinandersetzen.

Der Lichtblick am Horizont (oder eine Botschaft der Hoffnung)

Inmitten so vieler Unsicherheiten hat die Krise soziale Solidarität und innovative Lebens- und Arbeitsweisen gefördert, welche die lokale Gemeinschaft stärken. Die dynamische Start-up- und die akademische Szene von São Paulo sowie die staatlich geförderten wissenschaftlichen Stiftungen haben bereits Forschungsaufrufe ins Leben gerufen, Möglichkeiten zur Herstellung kostengünstiger Beatmungsgeräte geschaffen, schnelle Test-Screenings entwickelt und IT-Monitorfabriken in Produktionsstätten für IPE-Masken umgewandelt, um das Leben des Gesundheitspersonals an vorderster Front zu schützen. Zusätzlich kommen Apps zur Anwendung, welche Selbsthilfeinitiativen unterstützen wie auch zur Erhaltung der lokalen Wirtschaft in Zeiten sozialer Isolation beitragen. Weitere Innovationen werden aus der Not entstehen. In den kommenden Wochen wird unser Team diese Initiativen mit der HSG-Community über die Social-Media-Kanäle des GIMLA teilen.
 

Prof. Dr. Vanessa Boanada Fuchs leitet das St.Gallen Institute of Management in Latin America (GIMLA).
 

Bild: Adobe Stock / kay fochtmann

 

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