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Meinungen - 12.06.2020 - 00:00 

Ein Jahr nach dem Frauenstreik: Care-Arbeit in der Schweiz in Zeiten der Pandemie

Ist die Schweiz den Zielen der Gleichstellung ein Jahr nach dem Frauenstreik nähergekommen? Christa Binswanger, Ständige Dozentin für Gender und Diversity an der HSG, zieht Bilanz und beleuchtet Care-Arbeit in der Schweiz in Zeiten der Coronakrise.

12. Juni 2020. Der festliche Schweizer Frauenstreik 2019 hat Ungleichheiten in der Schweiz benannt und gesellschaftliche Veränderungen gefordert. Wo stehen wir heute? Die Welt und als Teil davon die Schweiz muss seit März 2020 die Corona-Krise bewältigen. Wir alle stehen unter dem Eindruck einer Erfahrung, die wir so nicht gekannt haben. Fragen an unser gesellschaftliches Zusammenleben stellen sich, die teilweise neu sind, sich aber teilweise auch einfach in einer neuen Deutlichkeit zeigen.

Eine zentrale Forderung des Frauenstreiks 2019 war, sowohl bezahlte als auch unbezahlte Care-Arbeit deutlich besser wertzuschätzen. Am 14. Juni 2019 wurde, wie schon oft zuvor, geltend gemacht, dass diese Wertschätzung durch eine Anhebung der Saläre und durch verbesserte Arbeitsbedingungen im Pflegesektor umgesetzt werden muss.

Mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen für Care-Arbeit

Die Corona-Pandemie hat uns erneut vor Augen geführt, wie wichtig die Pflegeberufe sind – viele Schweizer*innen haben sich zum Zeichen dieser Anerkennung auf ihre Balkone gestellt und geklatscht. Doch hat sich die Situation für die meisten Personen, die im Pflegesektor arbeiten, in Zeiten der Pandemie nicht verbessert, sondern zugespitzt. Ihre Arbeitsbedingungen wurden – im Sinne des Krisenmanagements – verschlechtert, die Arbeitszeiten ausgedehnt, die Personalknappheit in diesem Sektor durch eine stärkere Belastung der Einzelnen aufgefangen. Und dies, ohne die Saläre anzuheben oder die verlängerte Arbeitszeit durch zusätzliche Lohnanteile wertzuschätzen. Gleichzeitig hat die Schweizer Politik andere Branchen deutlich durch Hilfspakete unterstützt: so beispielsweise die Luftfahrt.

Politik und Gesellschaft sind nicht bereit für die Aufwertung

Wenn wir uns mit Blick auf diese gesellschaftspolitischen Praxen die Geschlechterbrille aufsetzen – wenn wir also danach fragen, welches Geschlecht wo über- und wo untervertreten ist, dann zeigt sich: in den typischen Frauenberufen – in der Pflege, Kleinkinderbetreuung und im Detailhandel – zeichnet sich bislang keine Verbesserung ab. Aus Sicht der Forderungen des letztjährigen Frauenstreiks sind Politik und Gesellschaft also (noch) nicht bereit, bezahlte Care-Arbeit aufzuwerten – und dies durch eine Umverteilung aufzufangen.

Doch es gibt aktuell Stimmen, die dies sehr deutlich einfordern. So etwa eine Initiative des Denknetzes unter Beteiligung von Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss: ein neuer Gesellschaftsvertrag ist von Nöten, der Care-Arbeit als unerlässlich für eine funktionierende Wirtschaft, für eine geschlechtergerechtere Gesellschaft und für einen nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen anerkennt. Ein Kernelement besteht in der materiellen Anerkennung von Care-Arbeit, die durch eine Umverteilung von Mitteln ermöglicht werden kann (www.denknetz.ch/care-gesellschaft).

Neuer Gesellschaftsvertrag und materielle Anerkennung von Care-Arbeit

Immerhin: Die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga hat sich unlängst öffentlich für eine Diskussion um höhere Löhne in sogenannt systemrelevanten Branchen – Unterstützung für Angestellte in der Pflege, in Kindertagesstätten und im Detailhandel –  ausgesprochen. Sommaruga sieht vor allem die Arbeitgeber in der Pflicht. Wo die öffentliche Hand Arbeitgeberin sei, müsse man sich diese Gedanken ebenfalls machen (SWI Info, 24. April). Der Berufsverband der Pflegefachleute forderte in einem offenen Brief ans Parlament höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und eine Stärkung der Ausbildung. Sie sprachen sich unter anderem für eine Covid-19-Zulage wie etwa in Deutschland aus (SWI Info, 24. April). Diese Forderungen werden zwar derzeit diskutiert – bislang aber nicht oder ungenügend umgesetzt.

Demos in Zeiten der Coronakrise

Und wie steht es um die Demonstrationen zu Zeiten von Corona? Wenn wir die Streikaktivitäten vom 14. Juni 2019 und die im April und Mai 2020 stattgefundenen Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen vergleichen, dann gibt es wohl eine Parallele und daneben viele Unterschiede. Die Parallele besteht in der Sehnsucht nach einer verbindenden Gemeinschaft, nach dem Heraustreten aus der Vereinzelung. Der grosse Unterschied im Vergleich mit dem Frauenstreik von 2019 besteht darin, dass sich diese Personen vor allem darum sorgen, dass ihre je individuell definierten Ansprüche zu wenig gehört würden. Es geht nicht um die Solidarisierung mit einer Gemeinschaft; etwa mit dem Anliegen, dass Care-Arbeit strukturell, institutionell und monetär aufgewertet werden muss, sondern es geht um die oft verzweifelt anmutende Forderung, als Individuum nicht zu kurz kommen zu wollen.

Ich habe grosses Verständnis dafür, dass wir in Zeiten von Corona als Individuen in Sorge sein können. Dieses Leiden an der eigenen Verletzlichkeit darf aber nicht dazu führen, dass diejenigen, die besonders verletzlich sind – weil sie einer sogenannten Risikogruppe angehören – nicht mehr geschützt werden. Diese Form der Entsolidarisierung ist beängstigend und sie ist mit den Zielen des letztjährigen Frauenstreiks weder vereinbar noch vergleichbar. Ganz anders die Black Lives Matter-Bewegung, die derzeit auf die Strasse geht: Sie solidarisiert sich mit Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe in der Schweiz und weltweit diskriminiert werden und solidarisiert sich mit ihnen.

Frauenstreik in St.Gallen 2020

Am 13. Juni 2020 findet in St.Gallen ein Sternmarsch des Frauen*streiks statt, um die letztjährigen Forderungen in Erinnerung zu rufen, die so viele Menschen der Schweiz mobilisiert haben. Erneut ist ein zentrales Thema, wie unabdingbar eine bessere Wertschätzung von Care-Arbeit ist. Gerade in Zeiten einer «neuen Normalität» ist anzuerkennen, wie sehr wir alle auf Care angewiesen sind. So gilt es auch im Juni 2020 der Forderung nach einer besseren monetären Anerkennung von Care-Arbeit mit Dringlichkeit Gehör zu verschaffen.

PD Dr. Christa Binswanger ist Ständige Dozentin für Gender und Diversity an der Universität St.Gallen.

Bild: photocase / Paulo Sousa

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