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Hintergrund - 13.11.2023 - 09:59 

Konferenz «Zeichenwende»: Business as usual? Das Anthropozän und wir.

Die Konferenz «Zeichenwende. Ästhetik und Anthropozän» befragte unseren Umgang mit Klimawandel, Artensterben und weiteren Phänomenen der ökologischen Megakrise unserer Zeit. Von Jörg Metelmann und Daniel Cuonz.
Die Konferenz «Zeichenwende. Ästhetik und Anthropozän» befragte unseren Umgang mit Klimawandel, Artensterben und weiteren Phänomenen der ökologischen Megakrise unserer Zeit. Bild: Ckle / photocase.com

Etwas sehr Grundlegendes ändert sich, und das nicht nur durch die geopolitischen Konflikte, die seit dem 24. Februar 2022 wieder täglich Bilder von Krieg und Leid in die westlichen Wohlstandszonen schicken. Auch hierzulande wächst ein Erfahrungsraum, in dem jede:r wahrnehmen kann, was Klimawandel, Artensterben und Übernutzungsökonomie bedeuten: Unsere Flüsse und Seen sind viel zu warm, die Felchen im Bodensee dürfen nicht mehr gefischt werden, weil sie vom Aussterben bedroht sind.
 
Diesen Einfluss des Menschen auf Klima und Umwelt nennt man seit Anfang des Jahrtausends das «Anthropozän», also das Erdzeitalter, das vom menschlichen Eingriff in das Erdsystem geprägt ist. Für die Geologie beginnt die Epoche mit der Ablagerung radioaktiver Partikel seit 1950, für die Kulturwissenschaften mal mit der Industrialisierung, mal mit der Sklaven-Plantagen-Wirtschaft, mal mit der akzelerierten Konsumgesellschaft. In jedem Fall provoziert der Begriff «Anthropozän», denn in seiner radikalen Lesart gibt es kein Anderes, kein Aussen des Menschen mehr – alles, was wir tun, sind wir und es kommt zu uns zurück. Die Provokation daran: Standen wir bisher gefühlt auf einer stabilen Raum-Zeit-Bühne, um die sozial erlernten und kulturell verfestigten Rollen aufzuführen, gerät nun die Bühne selbst in Bewegung oder wie Bruno Latour es formulierte: der Orchestergraben läuft voll, das Bühnenbild brennt, der Schnürboden kommt runter (Fluten, Brände, Stürme, wie in diesem Jahr in Griechenland, Italien und Kanada).

Was aber folgt aus diesem Paradigmenwechsel, aus dieser «Zeichenwende» (so der Konferenztitel)? Ist es nur ein weiterer «turn» (wie der «linguistic turn», der «spatial turn», der «affective turn»), der eine Verschiebung der Beschreibungen hin zu anthropozänen Kategorien wie Vermengung (von allen Lebewesen) und tiefer Welt-Zeit vornimmt? Oder bedeutet er wirklich einen Neuanfang, weil das Objekt seiner Beschreibung so gross und letztlich unfassbar ist, dass man mit der Fragilität von Wahrnehmbarkeiten anfangen müsste, bevor man zu Erzählungen und Begrifflichkeiten für diesen Kolossoalzusammenhang kommt? Zugespitzt: Mit den Sinnen beginnen, anstatt auf grossen Sinn einzustimmen!

Relevanz kills Ästethik

In diesem «Relevanz kills Ästhetik»-Verständnis plädierte der Frankfurter Germanist Heinz Drügh gegen wohlfeile Betroffenheit und für eine radikale Zeitgemässheit der Darstellung in der Kunst, die auch und vor allem die tiefe Verstrickung der Konsument:innen in die extraktive Warenwelt und das damit verbundene Geniessen einfangen kann. Diesen Aspekt vertiefte Sophia Prinz, Design-Theoretikern aus Zürich, mit dem Dual von Extraktivismus und Romantik als den beiden Polen des Design-Denkens in den letzten 200 Jahren: Die von Sklaven gepflügte Baumwolle sei in der bearbeiten Endform im Show-Room der westlichen Metropolen mit exotischen Motiven ohne Plantage bedruckt, wohlgefällig ohne Unrecht und Schmerz.

Im Sinne dieses dekolonialisierenden Auftrags plädierten viele Statements (wie etwa der Berliner Kuratorin Helena Romakin) für Ent-Ordnungen und die Umkehr von Hierarchien, etwa der Ächtung des Entdeckens (das immer auch aneignend ist) und die Hochachtung des Bleibens und Bewahrens. Die Gefährdung der Artenvielfalt in unserem unmittelbaren Nahbereich kam dabei an mehreren Stellen der Konferenz zur Sprache.
 
Einen weiteren Fluchtpunkt der Diskussionen bildete der Buddhismus (vor allem im Gespräch zwischen dem Zen-Meister Christian Dillo und dem Ökonomen Martin Kolmar) mit seiner radial gleich machenden Beschreibung der Welt im meditativen Raum: Subjekt und Objekt sind nicht getrennt, sondern in ihrer Vielfältigkeit verbunden und nur als solches, als Gesamtzusammenhang, zu erleben. Vor diesem Hintergrund einer Spürenswirklichkeit wird das «Leiden» (Sanskrit: Duhkha, «schwer zu ertragen») oder die ökonomisch gedachte «Knappheit», wie Martin Kolmar übersetzte, ganz anders erlebbar. Der Philosoph Andreas Hetzel aus Hildesheim betonte in seiner Reflexion über anthropozäne Verlusterzählungen, dass diese buddhistische Weltsicht eine der hervorgehobenen Praktiken sei, Bio-Diversität als Verflechtung von Leben wirklich denken zu können und ergänzte sie um ein Verständnis der «Land»-Ethik des vielzitierten Aldo Leopold als eine be-sondere Art zu handeln.

Bewusster Neuanfang oder business as usual?

Was also tun? Business as usual, nun als green investments? Oder ein bewusster Neuanfang im Zeichen einer post-extraktivistischen Lebensweise? Aus Sicht der zur Diskussion gestellten «Zeichenwende» ist die Antwort eine doppelte: Das Ende der Natur-Kultur-Trennung öffnet einen grossen Chancen-Raum der Re-Codierung und Neu-Erfindung des Lebens, den es mit Hingabe und Zärtlichkeit zu beschreiten gilt. Diese Chance ist aber zugleich Herausforderung, deren Angst- und Verlustbesetzung die Energien hemmen und im Kleinklein verlaufen lassen kann. Die Suchbewegung zwischen Happy end und «Zeitenende» (Welzer) kann dabei nur eine gemeinsame sein, wie die Konferenz sehr schön zeigte – nicht zuletzt dadurch, dass sie es im vielstimmig-transdisziplinären Gespräch praktizierte. 

Die Konferenz «Zeichenwende. Ästhetik und Anthropozän» fand am 9. und 10. November 2023 statt, organisiert von Jörg Metelmann und Daniel Cuonz von der School of Humanities and Social Sciences als Beitrag zu 125 Jahre HSG.

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