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Meinungen - 30.07.2020 - 00:00 

Black Lives Matter – Zur Aktualität einer Bewegung

Der gewaltsame Tod von George Floyd in den USA bescherte der Bewegung Black Lives Matter internationale Aufmerksamkeit und setzte die Themen Diskriminierung und Rassismus auf die politische und gesellschaftliche Tagesordnung - auch in der Schweiz. Ein Meinungsbeitrag von Christa Binswanger, Jelena Tosic und Sandra King-Savic.

 

30. Juli 2020. In ihrem Film über die Schweiz nach der sog. «Flüchtlingskrise» («Willkommen in der Schweiz», 2017) lässt die Regisseurin Sabine Gisiger die besondere und durchaus widersprüchliche Geschichte der Migrationspolitik in der Schweiz Revue passieren. In ihrer Retrospektive greift sie auf Archivmaterial aus den 1970ern zurück, darunter auch auf ein Interview mit James Schwarzenbach. Dieser sah «keinen Rassenunterschied zwischen einem Italiener, einem Franzosen und einem Schwitzer. Also kann man unmöglich da von Rassismus reden. Da müsst sichs um Neger handeln oder Araber (…) aber es handelt sich um Europäer». Schwarzenbachs bizarre Begründung, wieso er kein Rassist sei, zeigt exemplarisch die Perfidität dieses Rassismus. Das Abstreiten beruht nämlich oft stillschweigend auf der Annahme der eigenen «kulturellen» oder gar «natürlichen» Überlegenheit und einer entsprechenden Klassifizierung von Menschen - und ist somit gerade ein sehr deutlicher Ausdruck von Rassismus.
 

Zugleich wirft dieser Blick in die Geschichte der Schweiz jedoch auch ein positives Licht auf die Gegenwart. Die Black Lives Matter Demonstrationen quer durch die Schweiz – auch in St.Gallen – sind der jüngste Bestandteil und wichtiger Meilenstein auf dem Weg der wiederholten Forderung – von Aktivist*innen, kritischen Bürger*innen, Student*innen, Politiker*innen und vielen anderen – Rassismus als solchen zu benennen und unermüdlich auf ihn hinzuweisen. Dies bezieht sich zugleich auf die problematische und verharmlosende «bei uns gäbe es doch keinen Rassismus»-Einstellung, über die Diskriminierung bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche oder gar bis hin zu racial profiling. Dieser Meinungsbeitrag sieht sich als ein Bestandteil der sozialen Verantwortung in der Schweiz, zu der wir uns als Hochschullehrerinnen und Wissenschaftlerinnen auf besondere Weise verpflichtet fühlen.

Proteste in den USA

Werfen wir zuerst einen Blick in die USA und die Ereignisse, die dort dazu geführt haben, dass Tausende protestierend auf die Strasse gingen. Die Tötung von George Floyd am 25. Mai 2020 hat die tödliche Realität von Rassismus direkt auf unsere Bildschirme gebracht. Als Folge hat der Protest gegen Polizeigewalt und systematischen Rassismus in den USA eine weltweite soziale Bewegung ausgelöst. E. Tendayi Achiume, UCLA-Rechtsprofessorin, bringt es auf den Punkt: nicht nur versagt das Rechtssystem der USA bei der Anerkennung von Rassismus, sondern es verstärkt die Ungerechtigkeit und Diskriminierung von Persons of Colour im Gegenteil. So haben, um nur einige Namen zu nennen, Michael Brown, Eric Garner, Philando Castille, Breonna Taylor aufgrund von Polizeigewalt ihr Leben verloren. Deshalb planen derzeit 16 US Gliedstaaten ihre Polizeikorps zu reformieren oder diesen die Finanzierung zu entziehen.

Michelle Alexander analysiert in The New Jim Crow – Mass Incarceration and Racism in the U.S. systematischen Rassismus der USA aus historischer Perspektive. Mit der Frage, welche Massnahmen es braucht, um eine wirklich demokratische, egalitäre, multiethnische Gesellschaft zu fördern, richtet sich Alexander auch an eine internationale Leserschaft. Wir nehmen ihr Plädoyer auf, den eigenen historischen Kontext der Schweiz zu beleuchten, um Rassismus und ethnischer Diskriminierung in der heutigen Schweiz kritisch nachzugehen.

Xenophobie häufigste Diskriminierung in der Schweiz

Die Schweiz ist eines der bedeutendsten Immigrationsländer der Welt – vor Kanada, Australien, Neuseeland und den USA, die als klassische Immigrationsländer gelten. Dennoch wird Migration hierzulande nach wie vor als die Ausnahme und nicht als die Regel betrachtet. Xenophobie ist – möglicherweise gerade deshalb – die häufigste Form von Diskriminierung in der Schweiz. Für den ECRI (European Commission against Racism and Intolerance) Bericht, erschienen im März 2020, hat die Polizei im Selbst-Report 179 Hass-Verbrechen gemeldet. Im Schattenbericht weist das Netzwerk der Beratungszentren für Opfer von Rassismus eine weitaus grössere Zahl aus. Es benennt 301 xenophobe, rassistische, antimuslimische und anti-Roma/Sinti Vorfälle.
 

Menschen, die in die Schweiz migrieren sowie ihre Nachkommen prägen unser Land substanziell. Fast ein Drittel der Bevölkerung wurde im Ausland geboren oder gilt aus «ausländisch». Als Menschen mit Migrationshintergrund werden die erste, die zweite und manchmal sogar die dritte Generation bezeichnet. Debatten zu «Fremdheit» oder «Andersheit» in der Schweiz sind aus historischen Gründen vor allem mit Fragen von Migration und Flucht verbunden. Dabei kann sich die Einordnung als „verschieden“ bei einer Person häufen: so zum Beispiel, wenn bestimmte Gruppen von rassisierten und ethnisierten Migrantinnen besonders von Frauenhandel oder besonders prekären Arbeitsbedingungen betroffen sind. Die Forschung spricht hier von Intersektionalität. Wir verstehen in unserer Forschung gesellschaftliche Teilhabe als belonging: sie soll nicht nur legales Recht einschliessen, sondern auch das Recht auf soziale Mobilität und Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt. Um sich einer solchen Teilhabe anzunähern, muss sich die heutige Schweiz dringend systematischer Diskriminierung bewusst werden, diese thematisieren und dagegen vorgehen. Weder sollen ‹schwer aussprechbare Namen›, noch ein von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Aussehen dazu führen, keine Wohnung oder keine Lehrstelle zu finden. Rassistisch und xenophob motivierte Diskriminierung ist umso stossender, als sich zugehörig fühlende Schweizer*innen die Infrastruktur, die mehrheitlich von Migrant*innen gebaut und aufrecht erhalten wird, täglich nutzen.

Verschiedene Forschunsperspektiven auf das Thema Diskriminierung

Unsere Forschungen an der SHSS tragen aus verschiedenen Perspektiven zu einem vertieften Verständnis von Diskriminierungen bei. Das grosse SNF-finanzierte Projekt von Jelena Tosic und Andreas Streinzer beschäftigt sich mit «Un/Deservingness» als einer gegenwärtig prominenten Form der Moralisierung und Kulturalisierung von Ungleichheit. Alltags- und politische Debatten darüber, wer was und wieso in einer Gesellschaft «verdienen» würde (bspw. Staatsbürgerschaft, soziale Unterstützung usw.) implizieren – vor allem wenn es um Menschen mit Migrationshintergrund geht – oft rassistisch unterlegte Klassifizierungen und Stereotype. Das Habilitationsprojekt von Sandra King-Savic «Reframing ‹Integration›: Building a new Paradigm of ‹Integration’ based on the Perspective of those who Experienced Migration. A Case Study of Labor migrants and Refugees from the Socialist Federal Republic of Yugoslavia in Switzerland» untersucht ‹deservingness› im Hinblick auf belonging und die Be/Deutung von ‹Integration› aus der Sicht von Arbeitsmigrierenden und Geflüchteten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Christa Binswanger gibt zusammen mit Andrea Zimmermann dieses Jahr einen Sammelband zum «SDG 5 – Sustainable Development Goal 5: Gender Equality» heraus, wo mit einem intersektionalen Fokus die Frage nach Geschlechtergleichbehandlung und Diskriminierung in einem globalen Massstab gestellt wird.
 

Unsere verschiedenen – direkten und indirekten – wissenschaftlichen Auseinandersetzungen an der HSG haben zum Ziel, im Sinne von Black Lives Matter gemeinsam gegen Rassismus vorzugehen.

PD Dr. Christa Binswanger ist Ständige Dozentin für Gender und Diversity, Prof. Dr. Jelena Tosic ist Assistenzprofessorin für Transkulturelle Studien, Dr. Sandra King-Savic ist International Postdoctoral Fellow (IPF) an der Universität St.Gallen.

Bild: Adobe Stock / Lance

 

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