Forschung - 12.06.2025 - 15:00
Immer mehr Geräte – von Sprachassistenten bis hin zu Wearables wie Smartwatches oder Augmented-Reality-Brillen (AR) – passen sich automatisch an individuelle Vorlieben an oder verändern unsere Wahrnehmung der physischen Welt. Die Bereiche Spatial und Ubiquitous Computing führen zu einer neuen Form digital unterstützter Realität, die personalisiert ist: Jeder Mensch sieht und erlebt darin etwas anderes – abhängig von Algorithmen, Datenprofilen und Kontextinformationen.
«Spatial und Ubiquitous Computing ermöglichen Technologien, die sich dem Nutzer anpassen, statt umgekehrt», schreiben die Studienautoren. Diese Form der Interaktion geschieht oft unbemerkt – im Hintergrund, aber mit direkter Wirkung auf unsere Wahrnehmung. Die Folge: Menschen entfernen sich in ihrer Wahrnehmung der Welt durch eine Vielzahl individueller Realitäten immer stärker voneinander, sofern die Technologie nicht auch zum Austausch anregt. Die technologische Revolution im Hintergrund – etwa durch AR-Brillen oder smarte Alltagsgeräte – hat also nicht nur praktischen Nutzen, sie birgt auch gewissermassen eine Gefahr der sozialen «Vereinzelung». Denn wenn jeder Mensch nur noch sieht, was zu ihm passt, verlieren wir das gemeinsame Verständnis von Wirklichkeit.
Die Autoren entwickelten ein konzeptuelles Modell, um die Funktionsweise und Wirkung dieser Technologien besser zu verstehen. Die Studie basiert auf theoretischer Grundlagenarbeit, nicht auf Experimenten – sie sammelt, verknüpft und interpretiert Erkenntnisse aus Technikforschung, Designethik, Psychologie und Sozialwissenschaft. Das Modell beschreibt drei zentrale Mechanismen:
«Unser Modell bietet Orientierung in einer Welt, in der Technologie viel stärker und unmittelbarer als früher unsere Wirklichkeitswahrnehmung beeinflusst und deckt dabei den gesamten Raum der Personalisierung unserer Realität ab – von den Welten, in die wir in virtuelle Umgebungen eintauchen bis hin zum alltäglichen Erleben von Online-Plattformen durch unsere Webbrowser», sagt Simon Mayer, Professor für Interaction and Communication-based Systems an der School auf Computer Science der Universität St.Gallen. Jannis Strecker-Bischoff ergänzt: «Unsere Arbeit liefert eine gute Grundlage für alle, die diese Systeme gestalten, regulieren oder kritisch begleiten wollen.»
Die Untersuchungen führen die drei Studienautoren zu vier zentralen Erkenntnissen:
Unternehmen wie Google, Apple oder Meta investieren Milliarden in Technologien, die genau diese neue, personalisierte Realität mitprägen – meist, ohne dass gesellschaftliche Regeln oder ethische Standards greifen. Gleichzeitig entstehen neue Mensch-Maschine-Schnittstellen, die weit über klassische Bildschirme hinausgehen. Dabei sind Spatial und Ubiquitous Computing längst Realität: leise, effizient und allgegenwärtig – im Wohnzimmer, Klassenzimmer oder Büro. Kommunikationsexpertin Miriam Meckel, ebenfalls Professorin an der HSG, formulierte es in einem Gastbeitrag des Handelsblatts so: «Die Zukunft ist ambient, nicht immersiv.» Das trifft auch den Nerv der Studie. Es geht nicht um spektakuläre neue virtuelle Welten, sondern um die schleichende Individualisierung unseres Alltags.
Die Autoren zeigen in ihrer Untersuchung deutlich: Personalisierte Realitäten bieten Komfort, bergen aber auch gesellschaftliche Risiken. Wenn Menschen zunehmend durch individuell gefilterte Informationen navigieren, droht der Verlust eines gemeinsamen Referenzrahmens. Ähnlich wie bei Filterblasen in sozialen Netzwerken können Wahrnehmungsblasen entstehen, die Menschen voneinander trennen. «Eine zentrale Warnung lautet: Wir riskieren, den Konsens darüber zu verlieren, was real ist – und was nicht», sagt Studienautor Jannis Strecker-Bischoff.
Die Studie liefert ein wichtiges Fundament für die Debatte um die Zukunft digitaler Interaktion. Sie fordert Entwickler, Designer und politische Entscheidungsträgerinnen und -träger auf, Technologie nicht nur funktional, sondern gesellschaftlich verantwortlich zu denken. «Wir stehen am Anfang einer Ära, in der Technologie nicht nur unterstützt, sondern mitgestaltet, wie wir leben, lernen und arbeiten», schreiben Strecker-Bischoff, Mayer und Bektaş in ihrer Schlussfolgerung. Fazit der Studienautoren: «Wir brauchen nicht nur bessere Interfaces, sondern die bessere Integration von Werten in Technologien, um eine zunehmend personalisierte Welt gemeinsam gestalten zu können.»
Das Paper mit dem Titel «Towards Societally Beneficial Personalized Realities: A Conceptual Foundation for Responsible Ubiquitous Personalization Systems» steht online frei zum Download zur Verfügung. Fachleute der ACM Designing Interactive Systems Conference 2025 haben die Arbeit mit dem Honorable Mention Award ausgezeichnet.
Weitere Beiträge aus der gleichen Kategorie
Das könnte Sie auch interessieren
Entdecken Sie unsere Themenschwerpunkte