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Meinungen - 02.03.2022 - 00:00 

Wie steht es um Diversität und Inklusion in Schweizer Unternehmen nach zwei Jahren Pandemie?

Die Pandemie hatte die Welt und damit auch die Schweiz fest im Griff. Die mittelfristigen Auswirkungen sind noch schwer abschätzbar. Ein Meinungsbeitrag anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März von Gudrun Sander, Direktorin des Competence Centre for Diversity and Inclusion (CCDI-HSG).

2. März 2022. Betrachtet man die Ergebnisse des Gender Intelligence Reports 2021 macht sich Ernüchterung breit: Die Fortschritte stagnieren. Während die Geschlechterverteilung unterhalb des Kaders 50–50 beträgt, handelt es sich bei 83% des oberen Kaders und bei 77% des mittleren Kaders in Schweizer Unternehmen nach wie vor um Männer. Der Blick auf die Pipeline lässt keine grösseren Veränderungen erwarten: Denn Neuanstellungen und Beförderungen ins mittlere und obere Kader sowie in Positionen mit Personalverantwortung erfolgen zugunsten der Männer. Frauen schaffen es kaum über die unterste Kaderstufe hinaus. Auch 2022 wird es keine grossen Sprünge beim Thema Frauen in Führungspositionen geben. Warum?

Rückfall in alte Muster

Die ohnehin schon langsamen Fortschritte in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter in Schweizer Unternehmen wurden durch die Pandemie weiter abgebremst. Denn unter Druck fallen wir gerne in alte Muster zurück. Erste Studien deuten klar in Richtung Re-Traditionalisierung der Geschlechterrollen. Es waren vermehrt die Frauen, die ihr Pensum in der Pandemie reduziert oder ihren Job aufgeben haben, um noch mehr Care-Arbeit zu übernehmen. Gleichzeitig erfahren Frauen während der Pandemie eher eine Lohnkürzung als Männer. UN-Generalsekretär António Guterres hat mehrmals darauf hingewiesen, dass die Pandemie die ohnehin schon grossen Ungleichheiten, denen Frauen und Mädchen weltweit ausgesetzt sind, verschlimmert und damit jahrelange Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter zunichtemacht.

Trotzdem zeigen sich auch Entwicklungen, die möglicherweise Diversität mittelfristig fördern könnten.

Sensibilität für benachteiligte Gruppen ist gestiegen

Von der Pandemie sind ohnehin schon marginalisierte Gruppen stärker betroffen als diejenigen, die systembedingt von Privilegien profitieren. Für Menschen aus unteren sozialen Schichten, die im informellen Sektor oder in schlecht bezahlten Branchen arbeiten, für junge Menschen – besonders jene mit schlechter Ausbildung oder schlechten schulischen Leistungen – sowie Schwarze, haben sich die Perspektiven stark verschlechtert. Der Tod von George Floyd am 25. Mai 2020 hat dazu geführt, dass die Themen Rassismus und Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe oder ethnischer Zugehörigkeit auf die Agenda gerückt sind – besonders in Grossunternehmen in der Schweiz. Die Diversitätsstrategien und -massnahmen scheinen also umfassender zu werden und neben Geschlecht auch verstärkt soziale Schicht, Alter und Hautfarbe/Ethnizität zu berücksichtigen.

Grössere Bewegungen am Arbeitsmarkt und Fachkräftemangel als Chance für Diversität

Das Seco liess Mitte Februar 2022 verlauten, dass es 58'000 offene Stellen gibt – ein ausgesprochen hoher Wert. Eine Studie von Rundstedt zeigt zudem, dass die Branchenmobilität stark gestiegen ist. 52% aller Neueinstellungen sind branchenfremd. Denn viele Menschen haben sich während der Pandemie gefragt, ob sie weiterhin in ihrer Branche oder bei ihrem Arbeitgeber bleiben wollen. Andere waren gezwungen, nach neuen Arbeitsmöglichkeiten Ausschau zu halten. So sind etwa aus der Tourismusbranche reihenweise Personen abgewandert und werden vermutlich nur teilweise wieder zurückkehren. Auch die internationale Mobilität ist noch nicht auf Vor-Pandemie-Niveau. Hotels haben entsprechend Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu bekommen und können nicht mit vollen Kapazitäten öffnen. Lehrstellen in einzelnen Branchen sind kaum zu besetzen. Auch der ebenfalls schon vor der Pandemie angespannte Pflegesektor kämpft mit Abwanderung.

Der Fachkräftemangel und der Kampf um die besten Talente spitzt sich also zu und Themen wie Employer Branding, die Ausweitung von Anforderungsprofilen oder die Rekrutierung aus anderen Talentpools rücken auf die Geschäftsleitungsagenden und ins Zentrum der D&I-Strategien. Dadurch erhalten Menschen über 50 Jahre, Wiedereinsteigerinnen oder Migrant:innen und andere Gruppen bessere Chancen am Arbeitsmarkt.

Neue Chancen nutzen, Flexibilität erhöhen

Der «kollektive Feldversuch» aufgrund der monatelangen Homeoffice-Pflicht hat dazu geführt, dass Unternehmen heute besser verstehen, wieviel (mehr an) Flexibilität möglich ist, wie Rahmenbedingungen und Führungsverständnisse angepasst werden müssen, um virtuelle Teams besser zu führen. Der Digitalisierungsschub während der Pandemie hat nicht nur der HSG genützt, sondern vielen Schweizer Unternehmen. Sowohl Flexwork als auch Digitalisierung tragen zu einer grösseren Diversität bei, da Talente aus unterschiedlichsten Gruppen, die auf mehr Flexibilität angewiesen sind oder diese bei Arbeitgebern schätzen, besser inkludiert werden können.

Wir sind jedenfalls gespannt auf die weiteren Entwicklungen, ob sich mittelfristig mehr Diversität in Schweizer Unternehmen zeigen wird und falls ja in welcher Form.

Gudrun Sander ist Titularprofessorin für Betriebswirtschaftslehre mit besonderer Berücksichtigung des Diversity Managements an der Universität St.Gallen und Co-Direktorin der Forschungsstelle für Internationales Management sowie Direktorin des Competence Centre for Diversity and Inclusion (CCDI-HSG).

www.ccdi-unisg.ch, www.diversitybenchmarking.ch, www.advance-hsg-report.ch

Bild: AdobeStock / Jacob Lund

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