Forschung - 31.08.2023 - 08:00
Im HSG-Institut für «Behavioral Science & Technology» (IBT) stehen in einem grosszügigen Raum zwei Sofas und mehrere Barhocker. Sitzbälle liegen am Boden und an der Wand hängt ein Bildschirm. Hier und da stehen technische Geräte, wie etwa ein Smart Speaker und ein Staubsaugerroboter. Es könnte die Stube einer Studierenden-WG sein. Doch hier, im sogenannten «HSG Living Lab», führen die Forschenden des Instituts Experimente dazu durch, wie sich Menschen bei der alltäglichen Nutzung von Technologie verhalten. Sie arbeiten dabei unter anderem mit Forschungsmethoden und Fragestellungen aus der Verhaltens-, Computer- und Betriebswissenschaft.
«Für diese Art der Forschung ist es notwendig, eine natürliche Umgebung wie in einem gewöhnlichen Wohnzimmer zu haben. Im Gegensatz zum klassischen Labor erlaubt uns diese Umgebung, tatsächliches Verhalten präzise abzubilden», sagt Emanuel de Bellis. Er ist assoziierter HSG-Professor für Empirische Forschungsmethoden und einer der drei Direktoren des IBT.
Das IBT wurde 2021 von de Bellis, Christian Hildebrand (ordentlicher HSG-Professor für Marketing Analytics) und Clemens Stachl (assoziierter HSG-Professor für Verhaltenswissenschaft) gegründet. «Die Erforschung aktueller technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen erfordert einen interdisziplinären Ansatz – keine Disziplin kann heute isoliert die komplexen Probleme unserer Zeit lösen», sagt Hildebrand. «Wir möchten wissenschaftliche Disziplinen aufbrechen, um zu verstehen, wie neue Technologien unser Verhalten verändern – von sozialen Robotern über generative KI bis hin zu Smartphones, aber auch wie der Mensch durch sein Verhalten diese neuen Technologien prägt.»
Das 18-köpfige Team des IBT, darunter 11 Doktorierende, konzentriert sich vor allem auf die Erforschung von verhaltensnahen Technologien mit Künstlicher Intelligenz. «Ausgangspunkt unserer Forschung ist immer der Mensch und sein Verhalten», sagt Stachl. «Momentan befinden wir uns in einem technologischen Umbruchsprozess, in dem komplexe Technologien immer mehr Menschen zur Verfügung stehen. Es passiert unglaublich viel, wie die Lancierung des KI-Chatbots ChatGPT einer breiten Öffentlichkeit gezeigt hat. Wir möchten dazu beitragen, dass die Gesellschaft und Unternehmen mit dieser rasanten Entwicklung umgehen können», so Stachl.
Die IBT-Forschungsprojekte – dazu gehören auch Kooperationen mit Unternehmen und NPOs – umfassen diverse Themen. So ist der Psychologe Stachl beispielsweise Mitautor einer im Frühling 2023 publizierten Untersuchung zur Vorhersage von Studienabbrüchen. Die Autor:innen entwickelten einen Algorithmus, der mit einer Genauigkeit von rund 80 Prozent vorhersagen kann, welche Studierenden nach einem Semester ihre Ausbildung abbrechen werden.
Dafür werteten die Forschenden mittels KI insbesondere die soziale Eingebundenheit der Studierenden sowie ihre Erfahrungen an der Universität aus. Sie nutzten dafür Daten von über 50'000 Studierenden aus den USA, unter anderem deren Nutzung einer App zur Kommunikation mit der Universität. «Solche Analysen ermöglichen es beispielsweise, gefährdete Studierende frühzeitig zu erkennen und ihnen Beratungsdienste anzubieten», sagt Stachl.
Hildebrand führte kurz vor Ausbruch der Coronapandemie gemeinsam mit Forschenden der Universität Genf ein Feldexperiment durch, um den Einfluss grosser Online-Vorlesungen auf die Leistung von rund 1500 Studierenden zu untersuchen. «Es hat sich gezeigt, dass leistungsstarke Studierende davon profitieren, weil sie den Stoff in ihrem eigenen Tempo verarbeiten können. Bei schwächeren Studierenden ist es genau umgekehrt. Wir müssen daher genauer dorthin schauen, wo neue Technologien einerseits Produktivitätsvorteile schaffen, aber auch wo wir ungewollt Menschen verlieren und Ungleichheiten erzeugen», sagt Hildebrand.
Daraus liessen sich Empfehlungen ableiten, wo und wann der Einsatz von Online- oder Hybridkursen sinnvoll ist, nicht nur für Universitäten, sondern auch für andere Bildungsstufen. Weiter entwickelte Hildebrand in Zusammenarbeit mit der Non-Profit-Organisation Budgetberatung Schweiz einen Chatbot. «Dieser hilft den Menschen online bei der Budgetplanung und nimmt ihnen die Angst vor komplizierten Excel-Tabellen», erklärt Hildebrand. Die Ergebnisse einer nachgelagerten Untersuchung zeigten, dass die Verwendung des Chatbots die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass Menschen eine Budgetplanung überhaupt ein erstes Mal erstellen und dann auch umsetzen.
De Bellis führt derzeit eine vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie durch, um zu untersuchen, wie der Einsatz von Staubsaugerrobotern die Lebenszufriedenheit der Benutzer durch Zeitersparnis beeinflusst und welche Beziehung sie zu diesen autonomen Putzhelfern aufbauen. In früheren Studien konnte de Bellis beispielsweise zeigen, dass autonome Produkte, die menschliche Merkmale wie etwa Stimmen oder Gesichter aufweisen, den Nutzenden Schuldgefühle vermitteln können.
«Staubsaugerroboter bieten sich als Untersuchungsobjekte an, weil es sich dabei um eine weit verbreitete Technologie handelt», sagt de Bellis. Die Erkenntnisse aus dieser Studie liessen sich auf das Design anderer autonomer Produkte übertragen. Angesichts des «Zeitalters der Autonomie», das laut der IBT-Webseite angebrochen ist und durch Technologien gekennzeichnet ist, die zunehmend selbstständig agieren, sind das möglicherweise entscheidende Hinweise für Designer und Programmierer.
«Die Möglichkeiten der heutigen Technologie sind faszinierend und beängstigend zugleich. Richtig eingesetzt können sie helfen, die grossen Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa die Klimakrise, anzugehen», sagt de Bellis. Gleichzeitig empfänden viele Menschen eine Technologie, die autonom Entscheidungen trifft, als unheimlich. Darum werfen die IBT-Forschenden auch einen kritischen Blick auf neuste technologische Entwicklungen und deren Einfluss auf menschliches Verhalten, Organisationen und die Gesellschaft.
«Dabei geht es etwa um Themen wie den Schutz der Privatsphäre im digitalen Raum oder den zunehmenden Einfluss, den KI auf Entscheidungen im beruflichen, aber auch privaten Bereich hat», sagt Stachl. So könne auch eine KI unfaire oder voreingenommene Massstäbe anwenden. «Und gerade bei der massenhaften Nutzung von ChatGPT hat sich gezeigt, dass viele Menschen den von der KI generierten Inhalten unkritisch gegenüberstehen», sagt Stachl.
Diesen Sommer feiert das IBT sein zweijähriges Bestehen und wächst weiter: Auf das Herbstsemester 2023 stösst Tobias Ebert als HSG-Assistenzprofessor für Verhaltenswissenschaften und Technologie zum Team. «Es ist unglaublich inspirierend, dass wir an der HSG die Möglichkeit haben, unsere verschiedenen Disziplinen in einem Institut zusammenzufassen und neue Wege in Forschung, Lehre und Weiterbildung zu gehen», sagt Hildebrand. Die räumliche und organisatorische Nähe auch zu der School of Computer Science der HSG erleichtere den fachübergreifenden Austausch und erlaube es, «Themen in grösseren Zusammenhängen zu betrachten und den HSG-Spirit ‘From Insight to Impact’ zu leben».
Das Institute of Behavioral Science and Technology (IBT) ist eines von rund 40 Instituten, Forschungsstellen und Centers der HSG. Auf der IBT-Webseite sind alle Forschungsbereiche, aktuelle Publikationen und News sowie Praxispartner einsehbar.
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