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Meinungen - 05.10.2012 - 00:00 

Der Reiz des Unperfekten

Die Warenwelt versorgt uns mit immer perfekteren Dingen. Ein Gegengewicht bildet der Kult um Dinge, die nicht tadellos sind. HSG-Soziologe Felix Keller über Kaputtes und den Reiz des Unperfekten.

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10. Oktober 2012. Es sei «magisch», hörten wir, als Steve Jobs das glänzende, glatte iPad einführte. Es verspricht, den pannenanfälligen Tisch-Computer mit seinen lauten Ventilatoren ins Technologie-Museum zu bannen. Das ist nur die Spitze des Eisbergs: Auch in anderen Bereichen werden wir mit immer perfekteren Dingen umworben, die immer mehr können, besser in unser Leben eingepasst sind. Sind sie auf dem Markt, werden sie mit aller Unerbittlichkeit getestet, jeder Makel wird öffentlich, ein schwaches Testresultat bedeutet ihren Gnadenstoss.

Was geschieht mit den Dingen, wenn sie kaputt gehen? Natürlich ist das für die «Verbraucher», wie die Konsumenten auch heissen, ärgerlich, aber es scheint der natürliche Lauf der Dinge in der Warenwirtschaft: sie werden auf irgendeine Weise entsorgt. Denn schlussendlich steht schon eine neuere und noch bessere Version bereit.

Neapel: Sinnbild für das Unperkte
Erstaunlicherweise gibt es aber so etwas wie einen Kult um Dinge, die längst nicht mehr tadellos sind, vielfach sogar beschädigt. Der Ökonom Alfred Sohn-Rethel hatte dies schon in den zwanziger Jahre festgestellt, als er für längere Zeit in Neapel weilte. Grundsätzlich sei in Neapel alles kaputt. In Neapel fange das Funktionieren der Dinge sogar gerade erst an, wenn etwas kaputt geht. Das Intakte dagegen sei den Menschen dort unheimlich und suspekt: Gerade, wenn es perfekt wie von selbst funktioniere, könne man letztlich nie, wissen, «wie und wohin es damit geht». Neapolitaner liebten die kaputten Dinge.

Diese Freundlichkeit und Bastelsucht gegenüber defekten Gegenständen mag sich geografisch verlagert haben. Erstaunlicherweise werden kaputte Dinge aber auch hierzulande nicht nur einfach als Abfall angesehen, sondern gerade aufgrund ihres Mangels, ihrer Unperfektion auch hoch geschätzt. Damit ist nicht der «Antiquitätenhändler» gemeint, der mit seiner Schrotflinte auf neu-alte Möbel schiesst, um Wurmlöcher und damit Antiquität vorzugaukeln. Es geht um Objekte, die wirklich so beschädigt sind, dass sie nicht mehr zu gebrauchen sind und gerade deshalb einen Reiz entwickeln. Jahrzehntelang verrosteten ausrangierte Autos in einem Autofriedhof bei Bürgetal in Bern. Moos überzog die Fahrzeuge, Büsche wuchsen aus den Fenstern. Der Autofriedhof sollte aus umwelttechnischen Gründen aufgehoben werden. Unversehens entdeckte der Thuner Künstler Heinrich Gartentor den Zauber der verkommenen Fahrzeuge und erklärte den Friedhof zur Kunstausstellung.

Höhere Identifikation mit kaputten Dingen
Das Verkehrshaus Luzern und das Historische Museum Bern folgten seiner Einschätzung. Für den Regierungsstatthalter hingegen handelte es sich um Schrott, der den Boden mit Schwermetall, Blei und Quecksilber verschmutze. Nach einer Auktion mit mehreren tausend Besuchern, bei der u. a. das, was in den 50er Jahren einmal ein Mercedes war, enorme Summen erzielte, wurde der Autofriedhof zerstört.

Unschwer liessen sich auch aus dem privaten Gebiet analoge Beispiele finden: Manches, für andere kaputter wertloser Schrott («Wirf doch das endlich mal weg!»), erweist sich plötzlich als etwas, das man nicht weggeben möchte. Warum? Vielleicht nicht nur weil eine persönliche Geschichte sich nun mit ihm verbindet und das Defekte ein Gesicht erhalten hat, das ihn von seinen perfekten Artverwandten unterscheidet. Womöglich gibt es auch andere Gründe.

Vor Jahren hatte der Philosoph Günther Anders von einer neuen Art Scham gesprochen, einer Scham vor der beschämend hohen Qualität all der Dinge um uns herum. Er meinte, dass sich die Menschen ob der Perfektion und Mächtigkeit der technischen Welt als immer unvollkommener und ersetzbarer wahrnehmen.

Vielleicht versöhnen uns kaputte Dinge mit einer technischen Welt, die uns als immer überlegener erscheint. Wir beginnen uns mit dem Unperfekten zu identifizieren, weil wir uns selbst als nicht perfekt und austauschbar wahrnehmen. Das etwas vergessene Buch von Alfred Anders heisst: «Die Antiquiertheit des Menschen».

Bild: Photocase / complize

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