Ein Forschungsprojekt von Dr. Oleksandra Tarkhanova untersucht, wie die russische Invasion seit Februar 2022 die Verbindung zwischen dem ukrainischen Staat und seinen Bürgern beeinflusst.
Seit der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 stehen staatliche Funktionen, Territorialkontrolle und die Bindung zu vertriebenen Bürgern unter erheblichem Druck. Das Forschungsprojekt «Radikale Rekonfigurationen der Staat-Bürger-Verhältnisse. Der Fall der Ukraine» untersucht die Auswirkungen einer souveränitätsbedrohenden Krise auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern. Projektleiterin ist Dr. Oleksandra Tarkhanova, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am «Center for Governance and Culture in Europe» an der «School of Humanities and Social Sciences» (SHSS-HSG) der Universität St.Gallen.
In ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sich Oleksandra Tarkhanova mit der Staatsbürgerschaft – «ein sehr weites Feld», wie die Wissenschaftlerin bekennt. Einerseits stehen Analysen der Politikgestaltung mit Dimensionen wie Dokumentation, Legalität, Status und Diskriminierung im Fokus, andererseits umfasst die Forschung Affekte, Routine-Interaktionen und aussergewöhnliche Handlungen zwischen Bürgern und Staat. Das Forschungsprojekt ist auf vier Jahre angelegt und startet im September 2024. Unterstützt wird das Projekt durch Ambizione-Förderbeiträge des Schweizerischen Nationalfonds. Junge Forschende erhalten so die Gelegenheit, ein selbstständig geplantes Projekt an einer Schweizer Hochschule durchzuführen und zu leiten.
Tarkhanovas Forschungen über die Veränderungen der Staats-Bürger-Verhältnisse in der Ukraine sollen zutage fördern, was geschieht, wenn die Verhältnisse zwischen Staat und Bürgerschaft durch politische Ausnahmesituationen gestört sind. Die Wissenschaftlerin wird der Frage nachgehen, welche neuen Formen von Staat-Bürger-Verhältnissen in Krisen- und Kriegszeiten entstehen können und wie zivilgesellschaftliche Mobilisierung ermöglicht wird. Das Forschungsprojekt konzentriert sich auf drei Staats-Bürger-Begegnungen, um das Verhältnis zum Staat und bürgerschaftliches Handeln in verschiedenen Kontexten zu erfassen: Binnenvertriebene, Bürger unter Besatzung und Aktivisten. Aufgrund umfangreicher Feldforschung mit Interviews und ethnografischen Beobachtungen in staatlichen Einrichtungen sowie bei Freiwilligenaktivitäten werden affirmative, disruptive und kreative Praktiken analysiert.
Oleksandra Tarkhanova interessiert sich für die Idee der «Staatsbürgerschaft an ihren Grenzen» und beschäftigt sich mit den Formen von Staats-Bürger-Verhältnissen und Staats-Bürger-Praktiken, die während Krisen wie Krieg und Massenvertreibung entstehen – darunter können Überlebensstrategien von Bürgern und Bürgerinnen sein, die mehrere Reisepässe besitzen und diese je nach Situation einsetzen: «Unter der Besatzung bedeuten ukrainische und russische Pässe sehr unterschiedliche Verhältnisse zum Staat: Ein russischer Pass ist notwendig, um Zugang zur Grundversorgung zu erhalten, beispielsweise zu Trinkwasser, während ein ukrainischer Pass unter der russischen Besatzung keine praktische Bedeutung hat, sondern Hoffnung und Zugehörigkeit bedeutet», erläutert Tarkhanova. Das Forschungsprojekt wird neben dem Zugehörigkeitsgefühl der Bürger zum Staat auch den Aktivismus thematisieren. Während sich Staat und Aktivisten oft in Opposition zueinander befänden, sei Zivilgesellschaft in der Ukraine seit Beginn der gross angelegten Invasion gleichbedeutend mit dem Staat. Risse in dieser vermeintlichen Einheit zeigen sich aber bereits: So erwähnt Oleksandra Tarkhanova das umstrittene Gesetz zur Mobilmachung und der Erfassung der Wehrpflichtigen, das die Ukraine im Frühjahr 2024 verabschiedet hat. Laut Gesetz müssen sich alle Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren registrieren und können ab 25 Jahren eingezogen werden. Neue ukrainische Reisedokumente im Ausland werden zukünftig nur noch bei vorhandenen Wehrpapieren ausgestellt. Die Forscherin beabsichtigt, für ihr Projekt ukrainische Männer im Ausland zu befragen, deren Zugang zu konsularischen Diensten als ukrainische Staatsbürger eingeschränkt wurde. «Das Forschungsprojekt berücksichtigt politische Veränderungen, aktuelle Gesetze und Gerichtsverfahren. Dieser Gegenwartsbezug ist gleichzeitig spannend und herausfordernd», räumt die Soziologin ein.
Das aktuelle Forschungsprojekt orientiert sich nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich an Tarkhanovas Postdoc-Arbeit «Die Verhandlung der Staatsbürgerschaft am Rande des ukrainischen Staates», welche sie an der Universität St.Gallen verfasste. Zwischen 2020 und 2023 untersuchte die Forscherin, wie die Verhältnisse zwischen den Bürgern und dem ukrainischen Staat, der mit der Besatzung konfrontiert ist, sowie mit den staatlichen Institutionen, die direkt unter russischer Besatzung stehen, neu ausgehandelt werden. Der geografische Fokus lag in der Ostukraine auf der Grenze zwischen den besetzten und den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten.
Für ihr Postdoc-Projekt nutzte Tarkhanova empirische Forschungsmethoden und führte Interviews mit Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine. «Die Erfahrungen, die ich in meiner Postdoc-Arbeit bezüglich Sicherheit und Sensibilität bei Befragungen gemacht habe, kommen mir im aktuellen Forschungsprojekt zugute, weil wir ebenfalls Situationen von marginalisierten und teils entrechteten Menschen in einem politisch instabilen Umfeld beleuchten», betont die Wissenschaftlerin. Im aktuellen Forschungsteam arbeiten sowohl Forschende in der Schweiz als auch in der Ukraine: Neben Oleksandra Tarkhanova ist eine HSG-Masterstudentin als Assistentin Teil des Teams; in der Ukraine sammeln zwei Forschungsmitarbeitende empirische Daten und führen Interviews. Ein Psychologe in der Ukraine, der die Forschenden unterstützt – und bei Bedarf auch die Befragten – ergänzt das Team. «In den Gesprächen mit uns teilen viele Menschen belastende Erfahrungen. Deshalb ist es wichtig, dass das Forschungsteam im Umgang mit schwierigen Emotionen geschult und erfahren ist und bei Bedarf professionelle Unterstützung zur Verfügung steht», so Tarkhanova.
«Es ist wichtig, dass das Forschungsteam im Umgang mit schwierigen Emotionen geschult und erfahren ist.»
Seit 2020 ist Dr. Oleksandra Tarkhanova wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am «Center for Governance and Culture in Europe» an der «School of Humanities and Social Sciences» (SHSS-HSG). Das «Center for Governance and Culture in Europe» untersucht die sozialen, wirtschaftlichen, politischen, staatlichen und kulturellen Veränderungen in Europa aus einer interdisziplinären und transnationalen Perspektive. Tarkhanovas akademischer Werdegang ist denn auch Ausdruck dieser fächerübergreifenden Vielstimmigkeit der Wissenschaften, denn in ihrer Arbeit wirken soziologische, politologische und psychologische Forschungskulturen zusammen. In der Ukraine, ihrem Heimatland, hat sie an der «National University of Kyiv-Mohyla Academy» Soziologie studiert und sich Kenntnisse in Konfliktforschung und Sozialpsychologie angeeignet. Ein Stipendium führte die Studentin nach Schweden, wo sie an der Lund Universität einen Master in Gender Studies absolvierte. Ihre Dissertation an der Universität Bielefeld im Jahr 2019 widmete Oleksandra Tarkhanova der ukrainischen Geschlechterpolitik. 2020 führte ihr Weg dann dank eines Schweizer Bundes-Exzellenz-Stipendiums (ESKAS) an die Universität St.Gallen.