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Hintergrund - 29.10.2021 - 00:00 

Öffentliche Diskussion über Migration und Flucht an der HSG

1951 verabschiedete die UNO ein Abkommen über die Rechtsstellung von Menschen, die grenzüberschreitend auf der Flucht sind. Zum 70. Jahrestag der Genfer Konvention lud die Universität St.Gallen zu einer kritischen Debatte über Flucht und Migration. Die Veranstaltung zog viel Publikum an.

29. Oktober 2021. Noch heute gilt die Genfer Konvention als die wichtigste Grundlage für den völkerrechtlichen Schutz von Flüchtenden. Darin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung: Niemand darf in Länder aus- oder zurückgewiesen werden, in welchen das Leben oder die Freiheit aufgrund von Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Gruppenzugehörigkeit oder politischer Überzeugung bedroht wäre. «Hüter» der Genfer Flüchtlingskonvention ist die Organisation UNHCR.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet

Christoph Frei, Professor für internationale Beziehungen an der HSG, erläuterte in seiner Einleitung zur Debatte die Bedeutung der Konvention und ihre Leistungen. Er erinnerte daran, dass sie gegründet wurde, um nach dem Zweiten Weltkrieg den Millionen von Menschen zu helfen, die während des Krieges ihr Zuhause verloren hatten oder geflüchtet waren. Ursprünglich habe man gedacht, nach drei Jahren sei das Flüchtlingsproblem gelöst. Die Realität aber sieht anders aus: Derzeit gelten weltweit über 82 Millionen Menschen als Flüchtende, Binnenvertriebene, Staatenlose, Asylsuchende oder Rückkehrende.

Obwohl die Genfer Flüchtlingskonvention nur das absolute Minimum regle, sei es erstaunlich, dass sie 1951 überhaupt zustande gekommen sei, betonte Christoph Frei. «Die souveränen Staaten sind nur dann bereit, Abkommen zu unterzeichnen, wenn sie davon einen Profit erwarten können. Andernfalls lassen sie sich nicht gerne die Hände binden.» Deshalb sei es ein schwieriges Unternehmen gewesen, die souveränen Staaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass Flüchtende Schutz und Unterstützung brauchten.

Partizipation und Chancengleichheit für alle

Unter der Moderation von Politikwissenschaftlerin Claudia Brühwiler beteiligten sich Peter Tobler, Leiter des städtischen Amts für Gesellschaftsfragen, der Zürcher Völkerrechtler Oliver Diggelmann und HSG-Professorin Jelena Tošić an der Diskussion über Flucht und Migration. Peter Tobler gab Einblicke in die Realität von Flüchtlingen in der Stadt St.Gallen. Es sei kein einfacher Weg, den Flüchtende gehen müssten, um in der Schweiz als integriert zu gelten, erklärte er. Die Stadt St.Gallen sei in ihrer Flüchtlingspolitik zur Erkenntnis gelangt, dass eine starke Zivilgesellschaft einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen von Integration leiste. Gerade weil Integration vor allem durch das Zusammenleben funktioniere, investiere die Stadt in die Quartiere. Ziel sei es, die Partizipation und Chancengleichheit für alle zu verbessern.

Im Laufe der Jahrzehnte habe sich der Flüchtlingsdiskurs zum eigentlichen Asylabwehrdiskurs entwickelt, betonte Oliver Diggelmann in seinem Kurzreferat. Während die Bevölkerung auf Flüchtende aus Tschechien und Ungarn noch sehr wohlwollend reagiert hätten, sei die Angst vor Überfremdung gestiegen, nachdem Menschen aus weiter entfernten Ländern über die Grenze gekommen seien. Auch die Einstellung gegenüber Arbeitsmigranten habe sich verändert, seit viele Menschen aus ärmeren Ländern der südlichen Erdkugel auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa strömten.

Jelena Tošić berichtete, was sich in der Forschung in Bezug auf Migration und Flucht tut. Sie beschäftigt sich mit der Anthropologie der Migration und forscht über den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Migrationsbewegungen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Wissenschafter:innen verschiedener Länder arbeiten an aktuellen Forschungsprojekten und untersuchen beispielsweise den Umgang mit Leben und Tod an den EU-Aussengrenzen, den behördlichen Umgang mit jugendlichen Flüchtlingen im Spannungsfeld von Kindesschutz und Asylgesetzgebung oder die behördliche Konstruktion von Evidenz und Glaubwürdigkeit in Asylverfahren.

Internationale Zusammenarbeit ist unabdingbar

In der anschliessenden Diskussion wurde die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit betont. Migrationsströme und die damit verbundenen Probleme liessen sich nur durch konsequente Zusammenarbeit lösen. Einig waren sich die Diskussionsteilnehmenden auch darin, dass es auf die Auswirkungen von Migration und Flucht keine einfachen Antworten gibt und jedes Handeln oft auch die Gefahr eines neuen Dilemmas in sich birgt.

Falsche Anreize verstärkten die Migrationsströme, erklärte beispielsweise Oliver Diggelmann. «Es ist ein tragisches Problem, dass Rettungsaktionen auf dem Meer die Attraktivität zur Flucht steigern.» Viel wirksamer sei es, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Damit täten sich die westlichen Länder aber noch immer sehr schwer.

Text: Claudia Schmid; Bild: Photocase / MaasterB

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