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Meinungen - 14.06.2023 - 09:00 

Warum ist Adam Smith 300 Jahre nach seiner Geburt immer noch relevant?

Welche Bedeutung haben Adam Smiths Erkenntnisse heute? HSG-Dozierende erzählen, wie der «Vater der Ökonomie» ihre akademische Laufbahn beeinflusst hat und was sie fragwürdig finden an seinem Denken.
Welche Bedeutung haben Adam Smiths Erkenntnisse heute? HSG-Dozierende erzählen, wie der «Vater der Ökonomie» ihre akademische Laufbahn beeinflusst hat und was sie fragwürdig finden an seinem Denken.

Das Werk und Denken von Adam Smith haben auch heute, nach 300 Jahren, immer noch grossen Einfluss. Seine Ideen wie «Die unsichtbare Hand» (des Marktes), die «Handelsgesellschaft» (aus der später der Kapitalismus entstand) und der «Freihandel» werden auch heute noch verwendet. Mit seinen beiden Hauptwerken, «The Theory of Moral Sentiments (1759)» und «The Wealth of Nations (1776)», war Smith der erste, der die Wirtschaftswissenschaften als umfassendes System und als akademische Disziplin verstand.

Wir haben HSG-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler um ihre persönliche Einschätzung des Werks von Adam Smith gebeten. Das Ergebnis ist wie ein Kaleidoskop unterschiedlicher Ansichten und Gedanken. Es nimmt vier Bereiche in den Blick:

  • Was machte Smiths Denken so aussergewöhnlich?
  • Wie steht es um die «unsichtbaren Hand»?
  • Welche wichtigen Details seiner Arbeit sind in Vergessenheit geraten?
  • Was sind aus heutiger Sicht Schwächen oder Versäumnisse seiner Lehre?  

Aussergewöhnlicher Ansatz: Der Generalist 

Politikwissenschaftler Christoph Frei stellt fest: «Adam Smiths ganzheitliche Herangehensweise an soziale Phänomene leistet einen zwar nicht beabsichtigten, aber wertvollen Beitrag zu modernen Möglichkeiten, Wissenschaft zu betreiben. Er ist kein Spezialist, sondern ein Generalist im besten Sinne des Wortes: Er macht sich Erkenntnisse aus verschiedenen Perspektiven zunutze, die heute mit Bezeichnungen wie Geschichte, Psychologie, Ökonomie, Politikwissenschaft und so weiter versehen werden.» 

Wirtschaftshistoriker Florian Schui pflichtet ihm bei und weist darauf hin, dass Smith im Gegensatz zu vielen heutigen Ökonomen Psychologie, Geschichte, Politik und Gesellschaft bei der Erklärung der Ökonomie berücksichtigte – ein Ansatz, der der Ökonomie heute zu mehr Bedeutung verhelfen könnte. «Ökonomen müssen aus ihren Modellen heraus und in die reale Welt hinein, wenn sie dem grossen Gründervater der Ökonomie nacheifern wollen.» 

Die unsichtbare Hand 

Ökonomin Beatrix Eugster merkt an, dass Smith in «The Wealth of Nations» Wachstum und Wohlstand zum Teil auf die Arbeitsteilung zurückführt. In der heutigen Welt, in der Automatisierung und Digitalisierung voranschreiten, glaubt sie, dass Smiths Ansatz uns bei der Bewältigung dieser Herausforderungen inspirieren kann. Wie alle Studierenden der Wirtschaftswissenschaften wurde auch Eugster mit Smiths Prinzip der «unsichtbaren Hand» vertraut gemacht. Dieses beschreibt die Art und Weise, wie Reichtum geschaffen wird. Smith stellt fest, dass Wohlstand nicht im luftleeren Raum entsteht und dass, wenn Individuen in ihrem eigenen Interesse handeln, um in der Wirtschaft Gewinne zu erzielen, ihre Handlungen von der unsichtbaren Hand gelenkt werden, die letztendlich das Wohl der Gesellschaft fördert. Mit Blick auf ihre aktuelle Arbeit zur Bewertung der öffentlichen Politik stellt Eugster fest, dass die unsichtbare Hand die Gesellschaft nicht immer in die optimale Richtung lenkt.  

Eugster betont: «Gut gemeinte politische Massnahmen können manchmal unbeabsichtigte Folgen haben. Ähnlich wie bei Smiths Beobachtungen bleiben die zugrunde liegenden Mechanismen oft verborgen und werden erst nach der Umsetzung der Massnahmen deutlich. Daher ist ein Teil meiner Forschung darauf ausgerichtet, diese Anreize sichtbarer zu machen, um besser zu verstehen, was die unsichtbare Hand antreibt.» 

Vergessene Details im Denken von Adam Smith 

Mit Blick auf Teile von Smiths Werk, die es verdienen, wieder aufgegriffen zu werden, weist Florian Schui darauf hin, dass der Autor in seiner «Gesellschaft der vollkommenen Freiheit» sagt, dass die Regierung sich um Aufgaben kümmern muss, die für die Gesellschaft nützlich sind, für die sich private Akteure aber aufgrund der Kosten oder Risiken nicht engagieren würden. Diese Wendung in der Argumentation vernachlässigen jene Befürworter eines schlanken Staates, die sich auf Smith berufen, um darauf hinzuweisen, dass die Regierung lediglich für die Verteidigung, die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit, die Infrastruktur und nicht viel mehr zuständig sein sollte.  

Florian Schui ergänzt mit Blick auf Aspekte des Gemeinwohls: «Zu dieser Kategorie gehören sicherlich grosse Herausforderungen wie der Klimawandel: Privatpersonen werden aufgrund der Kosten und der Unsicherheit davon abgehalten, sich zu engagieren. Ein privates Unternehmen zieht es vielleicht vor, mit einer konventionellen Technologie einen sichereren Gewinn zu erzielen, selbst wenn dies bedeutet, dass es die Umwelt schädigt. Smith würde argumentieren, dass nichts dagegenspricht, wenn die Regierung Innovationen und Investitionen lenkt, um sicherzustellen, dass wir eine Zukunft auf diesem Planeten haben. Überraschenderweise bedeutet dies, dass man ein echter Anhänger von Smith, ein echter Liberaler, sein kann und trotzdem akzeptiert, dass die Regierung eine wichtige Rolle bei der grünen Revolution, die wir brauchen, spielen muss.» 

Trugschlüsse 

Wie die meisten grossen Geister hat auch Smith nicht alles richtig gemacht. Seine beiden einflussreichsten Werke schrieb er in den Jahren 1759 und 1776, also bevor die Dampfmaschine und andere Erfindungen Europa veränderten. Und so glaubte er, dass es über die Arbeitsteilung hinaus keine weiteren Innovationen geben würde. Florian Schui beschreibt dies als einen nicht ungewöhnlichen Irrtum, da sich die meisten Menschen am «Ende der Geschichte» wähnen. Ausserdem können wir daraus lernen, weil wir wissen, dass grosse Veränderungen immer wieder bevorstehen – gerade jetzt mit neuen Technologien wie der Künstlichen Intelligenz. Daraus lässt sich lernen, die Möglichkeit von Umbrüchen oder Disruptionen, wie derzeit die KI, immer als Teil einer offenen Zukunft mitzudenken.  

Auch Christoph Frei ist der Meinung, dass Smith nicht immer verstanden wird. Er verdeutlicht dies: «Zahlreiche, auch sehr bekannte Wissenschaftler sind der Ansicht, dass Smiths Hauptwerk ‘Der Wohlstand der Nationen’ auf der Annahme beruht, dass die Menschen zwangsläufig aus Eigeninteresse handeln. In diesem Licht wird der Liberalismus allzu leicht auf eine Ideologie reduziert, die den Egoismus nährt und kultiviert. Nichts könnte jedoch weiter von der Wahrheit entfernt sein. In der Tat ist Adam Smith ein grösserer Anhänger der Sorge um andere als David Hume. Aber wer liest heute noch seine ‘Theory of Moral Sentiments’?» 

Philosoph Federico Luisetti hat sich mit Smiths Ansichten zur Sklaverei auseinandergesetzt. «Obwohl Smith keine Sympathie für die Sklaverei hegte, die er als ‘den schändlichsten aller Zustände’ bezeichnete, spielte er das Elend der versklavten schottischen Bergarbeiter (colliers) und Salzarbeiter herunter, und er verurteilte nicht offen die Rolle Schottlands im Sklavenhandel oder erkannte den wirtschaftlichen Gewinn derjenigen an, die von der Sklaverei profitierten. Für einen Mann, der sich einem Gedankensystem verschrieben hat, in dessen Mittelpunkt die freie und individuelle Arbeit steht, ist dies ein beschämender Makel in seinem Vermächtnis.» 

Adam Smith und seine Leser 

Der grösste Schaden, der von Smith ausgeht, meint Florian Schui, sei nicht von Smith selbst verursacht worden, sondern durch die Art und Weise, wie seine Ideen später teilweise interpretiert und angewendet wurden. Schui sagt: «Die meisten Ökonomen, die über die unsichtbare Hand sprechen, gehören einer von zwei Gruppen an: denen, die Smith nicht gelesen haben, und denen, die ihn nicht verstehen. Infolgedessen kennen viele Menschen eine Karikatur von Smith: einen Mann, der sagt, dass die Menschen egoistisch und gierig seien und dass das alles zum Besten sei und dass wir keinen Staat brauchen, der über das absolute Minimum hinausgehe. Aber wenn man sich die Zeit nimmt und Smiths Werk tatsächlich en détail liest, stellt man fest, dass seine Ansichten viel komplexer und intelligenter sind.»   

Adam Smith war ein epochaler Denker. Er philosophierte aus unterschiedlichen Blickwinkeln über Themen der Ökonomie. Heute würde man einen solchen Ansatz interdisziplinär nennen. Er passt zur Universität St.Gallen, wo genau solches Nachdenken und Forschen über Wirtschaft gepflegt wird. Die immer wieder neue Lektüre von Smiths Werken wie «The Theory of Moral Sentiments» und «The Wealth of Nations» passt daher in unsere Zeit. Sie kann uns helfen, Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen, uns aber auch inspirieren, die Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht, mit gestärkter Vorstellungskraft anzugehen.

Beatrix Eugster ist Wirtschaftswissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Arbeitsökonomie und Public Economics mit den Schwerpunkten Behinderung und Integration. 

Christoph Frei ist Staats- und Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. 

Federico Luisetti ist Philosoph und Professor für italienische Kultur und Gesellschaft. 

Florian Schui ist Historiker mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte ökonomischer und politischer Ideen.  

Bild: Adobe Stock / Andras

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