Meinungen - 29.09.2017 - 00:00
29. September 2017. Die Frage nach Fakten und ihrer Vielfalt wird derzeit in den Medien breit diskutiert. Eine Krise der Wahrheit wird konstatiert und der Begriff der «alternativen Fakten» als Phänomen der neuen US-amerikanischen Administration verstanden. Teils wird die «Vielfalt der Fakten» generell mit dem Populismus verknüpft. Teils wird er auch mit der Kommerzialisierung der Wissenschaft in einem neoliberalen Denkmodell in Zusammenhang gebracht.
Die Vielfalt der Fakten zeigt sich auch in der gesellschaftlichen Verhandlung von Umweltproblemen und neuen Technologien, wie dem Klimawandel, der Nanotechnologie und der Digitalisierung. Dort hat sie die unangenehme Konsequenz, dass eine gesetzliche Regulierung kaum mehr möglich ist. So wird die Nanotechnologie trotz einer Vielzahl an toxikologischen Studien, die auf ein Gefährdungspotenzial hinweisen, kaum gesetzlich reguliert. Dies überrascht insbesondere im EU-Raum, da hier mit dem Vorsorgeprinzip ein Instrument zur Verfügung steht, das auch bei Gefährdungsvermutungen regulatorische Schritte ermöglicht.
Vielfalt der Fakten vs. alternative Fakten
Wie am Fall der Nanotechnologie gezeigt wird, werden in Diskussionen über neue Technologien und Umweltveränderungen unterschiedlichste Meinungen und Interpretationen eingebracht, die von verschiedenen Parteien jeweils als «Fakten» vermittelt werden. Die Vielfalt der Fakten bei neuen Technologien und Umweltproblemen scheint im Unterschied zu den «alternativen Fakten» des Populismus jedoch aus dem mit den Technologien und den Umweltproblemen verknüpften Nichtwissen zu entstehen. Nichtwissen beschreibt die in früheren Technik- und Umweltdiskursen häufig als «Restrisiko» ausgeblendeten unbeabsichtigten, unerkannten und auch zeitlich kaum auflösbaren Handlungs- und Entscheidungsfolgen.
Drei Dimensionen des Nichtwissens
Die Soziologie unterscheidet drei Dimensionen des Nichtwissens: 1) Das unbeabsichtigte bzw. das gewollte, 2) das gewusste bzw. das unerkannte und 3) das temporäre «Noch-Nicht-Wissen» bzw. das grundsätzlich nicht auflösbare Nichtwissen. Das gewollte und das gewusste Nichtwissen beschreiben klassische Bereiche der Risikoforschung. Ein Gentest zeigt beispielsweise das Risiko für eine bestimmte Krankheit auf. Oder das Nichtwissen kann auf eine spezifische Forschungsfrage eingegrenzt werden. Mit gezielter Forschung kann darauf eine Antwort gefunden und ein Risiko berechnet werden. In beiden Fällen werden Fakten produziert, welche zwar wissenschaftlich anzweifelbar sind, aber in der Regel in der Politik als Entscheidungsgrundlagen für regulatorische Massnahmen verwendbar sind.
Anders zeigt sich die Situation beim unbeabsichtigten, unerkannten und beim nicht auflösbaren Nichtwissen. Hier ist unklar, welches Wissen produziert werden muss, um die Wissenslücken aufzulösen, wer die Expertise mitbringt, dieses Wissen herzustellen und wer die Verantwortung für dessen Konsequenzen trägt.
Regulierung neuer Technologien
Fazit: Im Umgang mit neuen Technologien und komplexen Umweltproblemen entsteht eine Situation, in welcher kaum jemand in der Lage ist, verlässliche Fakten über mögliche Entwicklungen und Risiken zu liefern. Gesetzliche Regulierung ist jedoch auf gesichertes Wissen angewiesen. Dies führt dazu, dass sich neue Technologien und komplexe Umweltprobleme kaum mehr gesetzlich regulieren lassen. Damit fehlt der Gesellschaft ein wichtiges Steuerungsinstrument zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt. Das im europäischen Umweltrecht verankerte Vorsorgeprinzip und seine konsequente Umsetzung könnte hier einen Ausweg bieten. Dieses ermöglicht eine gesetzliche Regulierung trotz Abwesenheit gesicherter Fakten.
Monika Kurath forscht an der ETH Zürich, ist Privatdozentin für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Wien und Direktorin für Forschung & Faculty an der Universität St.Gallen.
Bild: photocase / suze
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