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Meinungen - 07.06.2019 - 00:00 

Lasst die Daten entscheiden: Plädoyer für eine algorithmische Direktdemokratie

Digitalisierung macht das Leben an vielen Stellen direkter. Davor wird sich die Politik nicht durch alte Parolen schützen können. Eine permanente algorithmische Repräsentation politischer Präferenzen des Schweizervolks würde die Schweiz zu einer digitalen Direktdemokratie machen. – Ein Meinungsbeitrag von Miriam Meckel.

7. Juni 2019. Die Stimmbeteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist wie ein scheues Reh. Mal zeigt sie sich stolz auf der Lichtung demokratischer Entscheidungsfindung, mal bleibt sie zu Teilen im Verborgenen des politischen Unterholzes. Die Statistik zeigt: In den vergangenen Jahrzehnten hat die Stimmbeteiligung des Schweizervolks bei den Parlamentswahlen merklich abgenommen. Betrug sie 1991 noch fast 57 Prozent, so fiel sie 1995 auf 42,2 Prozent, um dann wieder ein wenig anzusteigen. Generell offenbart die Statistik zum Abstimmungsverhalten: Politische Beteiligung ist volatil. Manche Themen bringen mehr Mobilisierung als andere, in den Kantonen wird zuweilen unterschiedlich engagiert angestimmt, und es gibt auch, je nach Vorlage, wesentliche Differenzen zwischen der Stadt- und Landbevölkerung.

Kann das in einer Direktdemokratie heute genügen? Passt das in eine Zeit, in der wir menschliches Verhalten bis auf kleinste Nuancen durch algorithmische Datenanalyse und künstliche Intelligenz nahezu perfekt beschreiben und voraussagen können? Und spiegelt das ein Lebensgefühl der Generationen Y und iGen, die ihren Alltag sekündlich über das Smartphone steuern?

Die Schweiz als direkte Demokratie ist den repräsentativen Demokratien schon voraus. Und doch geht vieles zu langsam, erscheint zu abgehoben und zu wenig bürgernah, vor allem für die bis 30jährigen, die alltäglich ihr Leben über das Smartphone organisieren. Deren direkte Lebensrepräsentation passt nicht mehr zur demokratischen Praxis gelegentlicher Abstimmungen.

Wahlprognose per Grosscomputer

Warum wagen wir nicht die Disruption des politischen Systems? Warum wagen wir es nicht, Technologie zu nutzen, um eine viel direktere Form der politischen Beteiligung möglich zu machen, und das mit einem viel geringeren logistischen Aufwand? Der amerikanische Professor und Sciencefiction Autor Isaac Asimov hat in der Kurzgeschichte «Franchise» (1955) die frühe Version einer «elektronischen Demokratie» entworfen. In der entscheidet der zufällig ausgewählte Amerikaner Normal Muller über die politischen Geschicke des gesamten Landes. Ihm werden Fragen gestellt, und die Antworten darauf werden mit Hilfe des Computers «Multivac» ausgewertet und auf die Wahlpräferenzen der gesamten Bevölkerung hochgerechnet. Muller ist stolz, dass durch ihn die amerikanische Bevölkerung in die Lage versetzt wird, «frei und ungehindert ihr Wahlrecht auszuüben.» Algorithmische Prognostik ersetzt individuelle Stimmabgabe.

So würde das heute sicher nicht aussehen. Aber die technischen Möglichkeiten der Datenauswertung reichen inzwischen auch viel weiter, als Isaac Asimov sich das Mitte der fünfziger Jahre vorstellen konnte. Längst lassen sich über Analysen von Twitterdaten, Google Trends und anderen großen digitalen Datensätzen ziemlich genaue Prognosen darüber erstellen, wie Menschen einkaufen, investieren und sich sonst so verhalten. Auch Wahlausgänge lassen sich vorhersagen. So hat «Univac I», der erste kommerzielle Grosscomputer in den USA, schon 1952 auf Basis einer Stichprobe von einem Prozent der WahlbürgerInnen korrekt den Erdrutschsieg Eisenhowers vorhergesagt, während die meisten Umfragen Stevenson vorne sahen. Bei der US-Präsidentschaftswal 2016 sahen fast alle Meinungsforschungsinstitute Hillary Clinton vorne, die südafrikanische Firma «Brandseye» sagte einen Wahlsieg Trumps voraus. Die Datenfirma analysiert per Algorithmus weltweit Tweets auf Stimmungslagen hin und prognostizierte so den Trump-Sieg wie auch zuvor schon die Brexit-Entscheidung der Briten.

 

 

 

 

Viele Bürgerinnen und Bürger leiden unter politischem Boreout.

 

 

 

 

 

Miriam Meckel

 

 

 

 

Näher bei den Bürgerinnen und Bürgern

Eine algorithmische Wahl, gestützt auf die Rechen- und Prognosekapazitäten künstlich intelligenter Systeme, könnte regelmäßig präzise beschreiben, was die Schweizer Bürgerinnen und Bürger wollen. Das ist für eine direkte Demokratie besonders interessant. Auch deren Repräsentanten gelingt es nämlich nicht immer, den Draht zu den Bürgerinnen und Bürgern herzustellen um zu vermitteln, warum politische Beteiligung durch Stimmabgabe wichtig ist und den Einzelnen angemessen zu Wort kommen zu lassen. Viele Bürgerinnen und Bürger leiden unter politischem Boreout. Dabei ist Politik und deren Gestaltung durch individuelle Beteiligung gar nicht langweilig. Langweilig ist nur die Inkompetenz der PolitikerInnen, wichtige Fragen konkret, spürbar und zukunftsgewandt zu beschreiben.

In einer Umfrage des «Center for the Governance of Change» unter 2500 Erwachsenen in Großbritannien, Spanien, Deutschland, Frankreich, Italien, Irland und den Niederlanden sagte im Frühjahr ein Viertel der Befragten, politische Entscheidungen sollten lieber durch eine künstliche Intelligenz als durch PolitikerInnen getroffen werden. Das spiegelt zum einen den Vertrauensverlust, der Institutionen und ihren Repräsentanten derzeit entgegenschlägt. Es spiegelt aber auch die Vorstellung, dass technologisch gestützte Entscheidungen vielleicht genauer, treffender oder gar gerechter sein könnten.

 

 

 

 

Digitalisierung macht das Leben an vielen Stellen direkter. Davor wird sich die Politik nicht durch alte Parolen schützen können.

 

 

 

 

 

Miriam Meckel

 

 

 

 

Aus der Zeit gefallenes politisches Betriebssystem

Digitalisierung macht das Leben an vielen Stellen direkter. Davor wird sich die Politik nicht durch alte Parolen schützen können. Eine permanente algorithmische Repräsentation politischer Präferenzen des Schweizervolks würde die Schweiz zu einer digitalen Direktdemokratie machen. Wer darüber unter dem Vorwand möglicher Gefahren nicht mal nachzudenken bereit ist, will die eigentliche gar nicht erst sehen: Wie lange glaubt die Politik, Menschen begeistern zu können, wenn ihr politisches Betriebssystem aus der Zeit gefallen ist? Für die direkte Demokratie wäre ein Versuch der kontinuierlichen politischen Präferenzauswertung keine Disruption, sondern ein Systemupdate. Wer sich dem verweigert, droht zur eigenen Fehleranfälligkeit beizutragen.

Prof. Dr. Miriam Meckel ist Ordentliche Professorin für Corporate Communication an der Universität St.Gallen und Gründungsverlegerin von «ada – der Plattform für das digitale Leben und die Wirtschaft der Zukunft».

Bild: Adobe Stock/RS-Studios


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