Hintergrund - 08.05.2024 - 16:00
Droht das Schweizer Gesundheitssystem unter dem Kostendruck wirklich einzubrechen? HSG-Professor Martin Eling und HSG-Studentin Hagr Arobei, die Organisatorin des Podiums, geben Auskunft.
Herr Eling, das Gesundheitssystem in der Schweiz galt bisher als teuer, aber gut. Mit welchen Herausforderungen sehen Sie das System als Versicherungsmanagement-Experte aktuell konfrontiert?
Martin Eling: Das Schweizer Gesundheitssystem steht tatsächlich an einem Wendepunkt. Einerseits sind die steigenden Krankenversicherungsprämien ein Symptom für tieferliegende Herausforderungen. Dazu gehören demografische Veränderungen wie die Alterung der Bevölkerung, die nicht nur zu einem höheren Bedarf an Gesundheitsleistungen führt, sondern auch zu teureren, weil oft spezialisierteren Behandlungen. Andererseits treiben der technologische Fortschritt die Kosten in die Höhe; neue Medikamente und Behandlungsmethoden verbessern zwar die Lebensqualität und Heilungschancen, sind aber oft mit hohen Preisen verbunden.
Was bedeutet dies konkret für Patient:innen in der Schweiz?
Martin Eling: Das Gesundheitssystem ist aktuell zu intransparent und ineffizient. Viele Gebühren, die für Dienstleistungen zu entrichten sind, dienen nicht direkt dem Patientenwohl. Dies führt zu einer signifikanten Kostensteigerung, die nicht nachhaltig ist. Hinzu kommt, dass viele Kosten für die Patient:innen nicht nachvollziehbar sind. Das verunsichert und führt zu Misstrauen. So ist zum Beispiel oft unklar, welche Kosten von Kantonen oder Bund getragen werden und wann welcher Leistungserbringer verantwortlich ist.
An welchen Stellschrauben können wir drehen: Welche Ansätze bieten sich aus Ihrer Sicht, diesen Problemen zu begegnen?
Martin Eling: Es bedarf innovativer Lösungen. Dazu gehört die Förderung von Präventionsmassnahmen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern und langfristig Kosten zu sparen. Ebenso ist es wichtig, das Vergütungssystem so anzupassen, dass Qualität und Effizienz belohnt werden, statt einer reinen Mengenausweitung der Dienstleistungen. Schliesslich müssen wir innovative Technologien und digitale Lösungen stärker nutzen, um die Effizienz des Gesundheitssystems zu steigern und die Patientenversorgung zu verbessern. An diesem Punkt setzt auch unser Podium an der HSG an: Es bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, um gemeinsam Lösungsansätze zu diskutieren. Nur durch einen offenen Dialog zwischen allen Beteiligten können wir die Weichen für ein nachhaltiges Gesundheitssystem in der Schweiz stellen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie konkret, den steigenden Prämienkosten zu begegnen – auch mit Blick auf die bevorstehende Abstimmung am 9. Juni 2024 in der Schweiz?
Martin Eling: Es gibt mehrere Ansätze, die sowohl kurz- als auch langfristige Entlastungen bieten könnten: Erstens könnte die Einführung oder Verstärkung von Modellen der integrierten Versorgung, wie Managed Care, die Effizienz im Gesundheitssystem steigern und Kosten senken. Solche Modelle fördern die Koordination zwischen verschiedenen Gesundheitsdienstleistern und stellen sicher, dass die Patientenversorgung zielgerichtet und ohne unnötige Duplikationen erfolgt.
Zweitens könnte eine stärkere Betonung und finanzielle Unterstützung von präventiven Massnahmen, wie gesundheitsbewusstes Verhalten und Früherkennungsprogramme, langfristig die Nachfrage nach teuren medizinischen Behandlungen reduzieren.
Drittens könnte die bevorstehende Abstimmung auch genutzt werden, um strukturelle Reformen zu diskutieren, die das Prämienwachstum begrenzen, ohne die Qualität der Versorgung zu beeinträchtigen. Dies könnte beispielsweise eine Neuverteilung der Kosten zwischen Bund, Kantonen und Versicherten umfassen, um die finanzielle Belastung für die Bevölkerung zu mildern.
Gibt es aus Ihrer Sicht eine Art «Best practice» und ein Land, das das Gesundheitswesen vorbildlich organisiert hat? Was kann die Schweiz davon lernen?
Martin Eling: Ein oft zitiertes Beispiel für ein vorbildlich organisiertes Gesundheitssystem ist das der Niederlande. Zentral ist, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen staatlicher Regulierung und Marktwettbewerb zu Effizienzsteigerungen im Gesundheitssystem führen kann, ohne dass die Qualität der Versorgung oder der universelle Zugang zu Leistungen beeinträchtigt wird. Wichtige Schritte könnten insbesondere sein: Die Einführung von mehr Transparenz im Hinblick auf Kosten und Leistungen, eine stärkere Förderung des Wettbewerbs unter den Versicherern und Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen sowie eine intensivere Fokussierung auf Prävention und integrierte Versorgung. Darüber hinaus bietet das niederländische Modell Anregungen, wie durch gezielte staatliche Steuerung und Anreize eine hochwertige, zugängliche und bezahlbare Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger sichergestellt werden kann.
Was erwartet das Publikum während der Podiumsdiskussion am Dienstag, 21. Mai 2024, um 18.30 Uhr im SQUARE auf dem Campus der Universität St.Gallen?
Hagr Arobei: An der HSG lernen wir, dass komplexe Themen eine fachübergreifende Betrachtung erfordern. Das wollen wir mit der vielstimmigen Besetzung des Podiums erreichen: Die Referent:innen repräsentieren Expertise aus allen relevanten Branchen: Pharmazeutik, Versicherungen, Wirtschaft, Politik und Gesundheitswesen. Sie benennen Probleme und diskutieren, wie diese angegangen werden können, live zugänglich für die Öffentlichkeit.
Was hat Sie persönlich dazu bewogen, das Podium zu organisieren?
Hagr Arobei: Ich kam als Flüchtling aus dem Irak und wuchs in der Schweiz auf. Mir ist daher bewusst, wie privilegiert wir hier im Bereich des Gesundheitswesens sind, verglichen mit den Zuständen im Irak. Bereits als Kind hat mich dies stark beeindruckt. Durch meinen Studentenjob als Financial Analyst bei einer Beratungsfirma, die Biotech-Unternehmen unterstützt, und meine Funktion als Event- und Partnerschaftenvorstand beim HSG-Verein Healthcare Club, ist mein Interesse weiter gestiegen. Mir ist es wichtig, die Herausforderungen wirklich zu verstehen und durch viele verschiedene Blickwinkel Lösungsansätze zu entwickeln.
Wie konnten Sie die Gäste für das Podium gewinnen?
Hagr Arobei: Im Sommer 2023 hatte ich Kontakt zu Pfizer Schweiz. Ich fragte, ob sie allenfalls Interesse hätten, an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen. Als eine positive Rückmeldung kam, habe ich mich mit den weiteren Referentinnen und Referenten in Verbindung gesetzt, um möglichst vielfältige Perspektiven zu ermöglichen. Ich wusste, dass dies eine einmalige Chance ist, eine Veranstaltung zu diesem Thema zu organisieren, welche einen grossen Mehrwert für die Öffentlichkeit hat.
Hagr Arobei studiert Wirtschaftsrecht an der Universität St.Gallen (HSG). Prof. Dr. Martin Eling moderiert das Podium. Er ist Professor für Versicherungswirtschaft an der HSG und leitet das Institut für Versicherungswirtschaft. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Cyber Risk, Microinsurance und Sozialer Sicherung wie Alters- und Gesundheitsvorsorge.
Weitere Informationen in Flyer und Online-Agenda.
Image: Adobe Stock / Stockfotos-MG
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