close

Meinungen - 09.11.2022 - 14:27 

Iran – Regime der Heuchelei, Volk voller Hoffnung

Seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini am 16. September erlebt das islamische Regime im Iran die grössten Bürgerproteste seit seiner Machtübernahme. Omid Ghavibazoo, iranischer Staatsbürger und PhD-Absolvent der Universität St.Gallen (HSG) schildert in einem persönlichen Meinungsbeitrag seine Wahrnehmung der Ereignisse.

Die 22-jährige Mahsa Amini, die im Iran von der Sittenpolizei zu Tode geprügelt wurde, weil sie einen als unpassend empfundenen Hidschab trug, war Auslöser für die Proteste mit dem Slogan «Women, Life, Freedom». An vorderster Front stehen Mädchen und Frauen, Schulter an Schulter mit Männern, die Freiheit und den Sturz der herrschenden Regierung fordern. Mahsa Amini ist zu einem Symbol für mehr als vier Jahrzehnte der Erniedrigung von Frauen und Mädchen geworden. Aber auch als Kurdin und Sunnitin ist Mahsa Amini zum Symbol des Kampfes für die ethnische und religiöse Identität jener Gruppen geworden, die seit Jahren von der herrschenden Regierung gedemütigt und unterdrückt werden. Auf einem Gebiet, das viereinhalbmal so gross wie Deutschland ist, leben im Iran Ethnien wie Aseris, Türken, Kurden, Lors, Araber, Perser, Belutschen und Armenier zusammen. Ebenso wie zahlreiche religiöse Minderheiten, darunter Christen, Juden und Zoroastrier. In den vergangenen 43 Jahren hat die Unterdrückung religiöser und ethnischer Minderheiten weite Teile der Gesellschaft gegen die Regierung aufgebracht. Ihnen fehlt jegliche Aussicht auf Reformen. Daher zielen die derzeitigen Proteste auf den Sturz des Regimes und die Schaffung einer freien Regierung für alle iranischen Religionen, Kulturen und Ethnien. Es geht um einen offenen Iran, der andere Länder nicht als Feinde betrachtet, sondern einen konstruktiven Austausch mit der freien Welt sucht.

Heuchelei des islamischen Regimes
Das islamische Regime kam 1979 durch die sogenannte Volksrevolution an die Macht. Es basiert auf islamischem Recht, das von Faqih (Geistlichen) ausgelegt und umgesetzt wird. Die Regierung setzt sich dabei aber dem Widerspruch aus, an religiös-moralischen Grundsätzen festzuhalten, über die sie sich aber jederzeit hinwegsetzt, wenn es darum geht, die eigene Macht zu erhalten. Lügen wurden systematisch institutionalisiert. Und so zeigt sich Heuchelei auch in der Art und Weise, wie das Regime mit den aktuellen Ereignissen umgeht. Aber auch darin, wie etwa Beamte und Geistliche die Grundsätze des islamischen Systems unterstützen, westliche Länder verteufeln, gleichzeitig aber ihre Kinder und Familienmitglieder ins Ausland schicken – auch in Länder, die offiziell als Feinde des islamischen Regimes gelten, wie etwa die Vereinigten Staaten. Ein prominentes Beispiel für diese Praxis ist die ehemalige iranische Vizepräsidentin für Frauen- und Familienangelegenheiten (Masoumeh Ebtekar). Sie war Sprecherin der islamischen Studentenrevolutionäre, die 1979 die US-Botschaft in Teheran besetzten. Ihr Sohn lebt heute in den USA.

Junge Generation wendet sich von der Ideologie ab 
Im Iran leben derzeit über 85 Millionen Menschen, von denen 46% jünger als 29 sind. Im Vergleich zu Deutschland (30%) und der Schweiz (32%) ist die Bevölkerung im Iran jung. Im Gegensatz zu früheren Generationen wuchs die junge iranische Generation (geboren im Jahr 2000 und später) in der Welt der Smartphones auf. Smartphones und das Internet waren für sie immer verfügbar, was dazu geführt hat, dass sie sich weniger von den ideologischen Lehren der derzeitigen Regierung beeinflussen lässt als frühere Generationen. 

Diese Generation hat sich im Privaten Freiräume geschaffen und unterscheidet sich stark von jener, die unmittelbar nach der Revolution von 1979 geboren wurden (wie ich). Meine Generation konnte die Doktrin des islamischen Regimes nicht in gleicher Weise kritisch hinterfragen, da uns die offenen Informationsquellen fehlten, die das Internet bietet. Ausserdem hatten unsere Eltern, die Hinrichtungen und Ermordungen während der Revolution von 1979 miterlebt hatten, uns die direkte Konfrontation mit der Regierung verboten. «Verneinung und Verbot» waren zentrale Prämissen für die Steuerung der Gesellschaft. Sie finden sich immer noch bei der iranischen Sittenpolizei, wenn sie Frauen eine «angemessene Kleiderordnung» vorschreibt. Das steht allerdings im Widerspruch zu den Ansichten der jüngeren Generationen und ihren umfassenderen Vorstellungen von Freiheit, Menschenrechten und der Gleichheit von Mann und Frau.

In den vergangenen Jahren hat die junge iranische Bevölkerung den Lügen und offiziellen Versprechungen der Regierung jedoch keine grosse Beachtung geschenkt. Mit jedem Vorfall wird die Kluft zwischen Gesellschaft und Regierung nun jedoch grösser. Und so versucht das religiös-totalitäre Regime, die Menschen mit noch grösseren Lügen und Gewalt zu kontrollieren. Es will davon ablenken, dass diese Regierung alles für ihr Überleben tun wird – selbst um den Preis, unschuldige Menschen zu töten und die Menschenrechte zu missachten. Das zeigt sich auch bei der Ermordung von mindestens 1500 Bürgerinnen und Bürgern innerhalb von zwei Wochen im November 2019, die als «Blutiger Aban» bezeichnet wird. Im Januar 2020 schoss es das ukrainische Passagierflugzeug «PS752» mit zwei Kriegsraketen ab, tötete 176 Passagiere sowie die ukrainische Besatzung und verbreitete auch hier Lügen, um die öffentliche Meinung von dieser Brutalität abzulenken.

Manifestation der Verzweiflung
Der moralische Verfall der Regierung ist das eine. Was aber hat dieses Regime für das Volk erreicht? Zu wenig. Das Land wird seit 10 Jahren geplagt durch hohe Inflation (40.2% im vergangenen Jahr), die Abhängigkeit von Ölexporten sowie den Rückgang des Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukts im laufenden Jahr auf das Niveau von 1979. Durch unsachgemässe Bewirtschaftung der Wasserressourcen trockneten Seen aus, was in einigen iranischen Provinzen zu lokalen Protesten wegen Trinkwassermangels führte. Die Inkompetenz in so vielen Bereichen hat dazu geführt, dass die Hoffnungen und Träume der jungen Generation zerstört wurden. Sie haben keine Zukunft. Ein deutlicher Ausdruck dieser Verzweiflung ist die hohe Zahl der gebildeten und elitären Iranerinnen und Iraner, die in den letzten zwei Jahrzehnten das Land verlassen haben. Nach den offiziellen Statistiken aus dem Jahr 2018 wandern jedes Jahr 180’000 Menschen aus. Fachkräftemangel ist die Folge. Die Proteste des letzten Jahrzehnts hatten vor allem wirtschaftliche und umweltpolitische Gründe. Die einkommensschwachen Schichten der Gesellschaft spielten eine wichtige Rolle. Die aktuellen Proteste gehen aber über ökonomische Missstände hinaus. Es geht um die Forderung von Freiheit, die religions- und kulturübergreifend ist.

Aufruf zum Handeln
An diesem kritischen Punkt der Geschichte gibt es kein Zurück mehr. Das Regime befindet sich in der schwächsten Position seit langem und tut rücksichtlos alles, um sein Überleben zu sichern. Die iranischen Bürger innerhalb und ausserhalb des Landes plädieren mehr denn je für einen Regimewechsel. Ich glaube, wenn diese Bewegung keinen Erfolg hat, werden ungezügelte Gewalt und immense Repressionen des Regimes gegen sein Volk folgen, was eine weitere globale Migrationskrise auslösen könnte.

Auch wenn die westlichen Länder derzeit mit der wirtschaftlichen Rezession der Post-Covid-Ära und dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu kämpfen haben, hoffe ich, dass sie den Ruf des iranischen Volkes nach Freiheit vernehmen und anerkennen. Auch nichtmilitärische Unterstützung kann den Sturz dieses Regimes beschleunigen. Ich glaube, dass weitere Wirtschaftssanktionen verhängt, keine weiteren Geschäfte mit dem Regime gemacht, und diplomatische Beziehungen abgebrochen werden sollten. Dieses Regime darf nicht länger anerkannt werden. Die Unterstützung von aussen, so hoffe ich, kann helfen, die Leben jener zu retten, die heute für ihre Freiheit auf die Strasse gehen. In diesem Sinne möchte ich an das persische Gedicht erinnern, dessen englische Übersetzung am Eingang des Gebäudes der Vereinten Nationen in New York geschrieben steht. Es stammt von Saadi Shirazi, einem Dichter, der die Zeilen bereits im dreizehnten Jahrhundert verfasste.

Human beings are members of a whole, 
In creation of one essence and soul.
If one member is afflicted with pain, 
Other members uneasy will remain.
If you’ve no sympathy for human pain,
The name of human you cannot retain.

Omid Ghavibazoo wurde 1989 im Iran geboren. Er zog 2017 in die Schweiz und schloss kürzlich sein Doktoratsstudium in Finanzwirtschaft am Institut für Versicherungswirtschaft (I.VW) der Universität St.Gallen ab.

Originalversion auf Englisch.

Bild: Keystone / Protest in Teheran, Iran (Oktober 2022) 

Entdecken Sie unsere Themenschwerpunkte

north