Meinungen - 11.12.2018 - 00:00
11. Dezember 2018. In den Verhandlungen über das Rahmenübereinkommen war der Schweiz entsprechend ihrer Tradition besonders wichtig, dass die direkte Demokratie gewahrt werden würde. Dafür wäre aber kein Raum geblieben, wenn sich die Verträge in den Bereichen, wo sie Recht setzen, dynamisch an sich veränderndes Unionsrecht angepasst hätten. Genau dies hatte die Union aber gefordert. Das Rahmenübereinkommen sieht nun vor, dass neue Unionsrechtserlasse nur anwendbar werden, wenn sie in der Schweiz entsprechend der Bundesverfassung – und damit gegebenenfalls unter Einbezug des Volkes – gutgeheissen worden sind. Damit wird das bilaterale Recht in der Schweiz neu fortlaufend demokratisch verankert.
EU springt bei der Rechtsanpassung über ihren Schatten
Die EU ist im Punkt der Rechtsanpassung über ihren Schatten gesprungen. Sie sieht Verträge wie jene mit der Schweiz primär als Mittel zur Teilnahme am Binnenmarkt. Diese Teilnahme setzt unter normalen Umständen eine Mitgliedschaft in der Union voraus. Es wäre in der Union aber unvorstellbar, ja sogar rechtswidrig, einem Mitgliedstaat das Recht einzuräumen, neue Unionsrechtserlasse nicht anzuwenden. Aber die Union gab in diesem Punkt gegenüber der Schweiz nach und passte ihre Perspektive an. Der Grund für dieses Nachgeben dürfte weniger die Tatsache gewesen sein, dass die Schweiz kein vollwertiges Mitglied der EU ist, sondern vielmehr, dass die Anpassung der Verträge an neues Unionsrecht bisher im Rahmen der Verträge mit der Schweiz relativ gut funktioniert hat. Auch die sog. Unionsbürgerschaftsrichtlinie, einer der wenigen Reibungspunkte im Bereich der Anpassung, gab die Union im Verhältnis zur Schweiz preis. Anders kann die Nichterwähnung der Richtlinie im Verhandlungsresultat, d.h. im Rahmenübereinkommen, nicht interpretiert werden (auch nicht im Lichte von Protokoll 2 zum Übereinkommen).
Schweiz gibt bei der Rechtsprechung nach
Im Gegensatz dazu war der Union die Rechtsprechung wichtig. Hier hat die Schweiz nachgegeben. Die Rechtsprechung tritt im Abkommen zweifach auf: einerseits in der Frage der Geltung neuer Entscheidungen des Europäischen Gerichthofes im Rahmen der Verträge und andererseits in der Rolle des Gerichtshofes bei der Streitbeilegung. In beiderlei Hinsicht waren der Union in den Verhandlungen die Hände gebunden. Dies ist in der Schweiz häufig übersehen worden. Der Gerichtshof hat das Gemeinschaftsverfassungsrecht schon früh so ausgelegt, dass seine neuen Entscheidungen in einem wie auch immer ausgeweiteten Binnenmarkt grundsätzlich volle Geltung zu beanspruchen haben, sowie der Gerichtshof selbst als einziges Gericht autoritativ Unionsrecht für die Union sprechen kann. Aufgrund dieser für die Union verbindlichen Vorgaben, die von ihrer Verfassungsstruktur ausgehen, gab es für die Union keine andere Lösung im Rahmenübereinkommen als die bindende Wirkung zukünftiger Rechtsprechung des Gerichtshofes festzuhalten und die Streitschlichtung durch ein Schiedsgericht unter den Vorbehalt zu stellen, dass der Gerichtshof zwecks Auslegung von Unionsrecht vorab anzurufen sei. Jede andere Lösung hätte das Übereinkommen dem Risiko ausgesetzt, dass der Gerichtshof es nachträglich für ungültig befunden hätte. Dies ist daraus ersichtlich, dass das Austrittsabkommen des Vereinigten Königreiches, das als Zwillingsabkommen des Rahmenübereinkommens gesehen werden muss, in der Streitbeilegung identisch ist. (Als Abkommen über einen Austritt konnte dieses freilich die zukünftige Rechtsprechung des Gerichthofs für nicht bindend erklären.) Die Schweiz gab im Punkt der Rechtsprechung klugerweise weitgehend nach, auch wenn es ihr nicht leicht gefallen sein mag. Das Übereinkommen ist nun auch innenpolitisch schwerer zu vermitteln, doch ist es eben ein auf Kompromissen beruhendes Verhandlungsprodukt – und nicht eine Wunschliste, die beliebig gestaltet werden kann.
Justiz zentrale Errungenschaft der Union
Die Rolle der Unionsjustiz erweist sich damit insgesamt für die Union als nicht mehr verhandelbar, was darauf zurückzuführen ist, dass diese Justiz mittlerweile zu der zentralen Errungenschaft der Union schlechthin geworden ist. Es ist die Gerichtsbarkeit, welche mit ihrer Unabhängigkeit von der häufig launischen und im Tagesgeschäft verhafteten Politik den Fortbestand der Union in ihrem Kern – dem Binnenmarkt – sichert. Die Union ist in höherem Grade juridifiziert als man sich in der Schweiz gemeinhin bewusst ist: C’est l’Europe des juges. Diese Tatsache erklärt auch die entschiedenen Reaktionen in der Union auf jüngste Versuche seitens Polens und Ungarns, die Rechtstaatlichkeit zu unterwandern.
Die Entscheidung über das Abkommen ist zweifelsohne die wichtigste Entscheidung der Schweiz mindestens seit jener über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1992.
Thomas Burri
Wichtigste Entscheidung der Schweiz seit 1992
Das Rahmenübereinkommen bedarf nun der ungeteilten Aufmerksamkeit der Schweiz, denn die Situation ist ernst. Die Entscheidung über das Abkommen ist zweifelsohne die wichtigste Entscheidung der Schweiz mindestens seit jener über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1992, ja sie ist sogar weit bedeutender, denn es steht ein über mehr als 25 Jahre sorgfältig aufgebautes Gebäude auf dem Spiel – die bilateralen Verträge – während beim EWR-Abkommen lediglich über den Weg in die Zukunft abgestimmt wurde. Gemäss der Verfassung wird die Entscheidung über das Rahmenübereinkommen vor das Volk kommen – aber nur vor das Volk und nicht, wie damals das EWR-Abkommen, vor Volk und Stände.
Lange Phase der Unsicherheit bei möglichem Scheitern
Die Entscheidung muss ohne Angst vor der Zukunft und unbesehen politisch aufgeblasener Konzepte wie «Souveränität» oder «Überfremdung» nüchtern getroffen werden. Ähnlich wie beim Austrittsabkommen des Vereinigten Königreichs droht nämlich auch im Falle des Scheiterns des Rahmenübereinkommens der Schweiz eine Klippe («Cliff»). Dies ist keine leichtfertig getätigte Aussage. Ähnlich wie im Fall des Vereinigten Königreichs wäre es gefährlich, sich der Illusion hinzugeben, man könne im Falle des Scheiterns des Abkommens ohne Weiteres den jetzigen Status Quo der bilateralen Verträge weiterschleppen. Die Entscheidung, vor der die Schweiz steht, ist eine binäre: Entweder akzeptiert sie dieses Rahmenübereinkommen oder der bilaterale Weg ist zu Ende. Im letzteren Fall käme, das kann man ohne Angstmacherei festellen, eine lange Phase der Unsicherheit. Diese Alles-oder-Nichts-Situation ist auf das Wachstum der bilateralen Beziehungen zurückzuführen. Es hat sich gezeigt, dass ein derart komplexes Vertragsgebilde ohne juristische, unpolitische Streitbeilegung nicht mehr zu handhaben ist. Teilweise geht aber das starke Drängen der Union diesbezüglich auch auf die zumindest angedrohte Unzuverlässigkeit der Schweiz in ihren Vertragsverpflichtungen zurück – und wieder grüsst die Masseneinwanderungsinitiative.
Kein «besserer Deal» möglich
Die Schweiz sollte sich auch nicht der Illusion hingeben, dass das Rahmenübereinkommen nachverhandelt werden könnte. Wie beim Austrittsabkommen mit dem Vereinigten Königreich kann auch beim Rahmenübereinkommen kein «besserer Deal» herausgeholt werden. Das Übereinkommen ist, was es ist. Es geht um Demokratie und Streitbeilegung, nichts weiter. Ob der bilaterale Weg im Falle der Ablehnung des Rahmenübereinkommens letztlich formell mittels Kündigung beendigt wird oder einfach abstirbt, bzw. abgestorben wird, ist nicht wesentlich für den nun anstehenden Entscheid.
Recht einer jeden Generation, ihre Zukunft zu gestalten
Die Bevölkerung der Schweiz wird gut daran tun, die Entscheidung sehr gut abzuwägen. Es müssen hier vor allem jene gehört werden, die mit der Entscheidung werden leben müssen, also insbesondere die jüngeren Arbeitstätigen, Studierenden, Familien, etc. – mitunter die sonst «schweigende Mehrheit». Man sollte nicht den gleichen Fehler begehen wie im Vereinigten Königreich und primär den älteren, vermeintlich erfahreneren Generationen Gehör schenken. Es geht bei der anstehenden Entscheidung um das Recht einer jeden Generation, ihre Zukunft zu gestalten. In diesem Lichte besehen sollte Kampfansagen – wie auch Unterstützungszusagen – jener Generation, die sich damals im Jahr 1992 dankenswerterweise im richtigen Moment mit dem EWR auseinandersetzte, nun kein entscheidendes Gewicht mehr zukommen. Das Rahmenübereinkommen ist nicht der EWR, die heutige Welt ist nicht mehr jene des Jahres 1992. Was es nun braucht, ist eine neue, von der Vergangenheit unbeeinflusste Entscheidung. Man müsste angesichts der Tragweite der Entscheidung insbesondere über die einmalige und ausnahmsweise Herabsenkung des Stimmrechtsalters diskutieren. Dies wäre verfassungsrechtlich durchaus auch zügig machbar.
Wesentliche Punkte: direkte Demokratie und Streitbeilegung
Der Lärm, der um die kurzzeitigen Dienstleistungen und die flankierenden Massnahmen gemacht wird, sollte den Blick auf die wesentlichen Punkte des Rahmenübereinkommens – die direkte Demokratie und die Streitbeilegung – nicht trüben. Das Entsenderecht der Union belässt der Schweiz viel mehr Spielraum, als gemeinhin zugegeben wird, und dieser Spielraum wird auch in der Union immer weiter gefasst. Er erlaubt der Schweiz insbesondere, einen Mindestlohn gegenüber ausländischen Dienstleistungsanbietern durchzusetzen, doch müsste die Schweiz dies auch tun. Das dem Rahmenübereinkommen angehängte Protokoll 1 kommt der Schweiz weiter entgegen, insbesondere indem es eine Meldepflicht von vier Tagen erlaubt. Etwaige weitere administrative Hürden, die angeblich nicht abbaubar sind, sind letztlich als Protektionismus anzusehen, der unliebsame Konkurrenz mittels bürokratischen Hindernissen abzuschrecken versucht. Diesen engen und zeitverhafteten Interessen sollte ein solch zukunftsweisendes Abkommen wie das Rahmenübereinkommen auf keinen Fall geopfert werden.
Thomas Burri ist Assistenz-Professor für Völkerrecht und Europarecht an der Universität St. Gallen. Er erforscht den Binnenmarkt der Union, das allgemeine Völkerrecht, sowie die rechtlichen und ethischen Implikationen künstlicher Intelligenz.
Bild: djama – stock.adobe.com
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