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Hintergrund - 27.04.2023 - 10:30 

Generationenvertrag: Jetzt müsste dringend gehandelt werden

Professor Martin Eling vom Institut für Versicherungswirtschaft (I.VW-HSG) beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Thema Generationenvertrag. «Die Schweiz hätte alle Voraussetzungen für einen funktionierenden Sozialstaat. Allerdings müsste sie jetzt dringend handeln», betont er.
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Martin Eling vom Institut für Versicherungswirtschaft beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Generationenvertrag.

Martin Eling ist Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft. Dementsprechend beleuchtet er den Generationenvertrag aus finanzpolitischer Sicht. Vor über zehn Jahren veröffentlichte das I.VW-HSG den Bericht «Der Generationenvertrag in Gefahr: Eine Analyse der Transfers von Jung nach Alt in der Schweiz.» Eine der Kernaussagen lautete: Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wird die Belastung der Jungen in den kommenden Jahrzehnten signifikant zunehmen. Bedenklich sind die Entwicklungen im Bereich der Sozialversicherungen und der Umweltpolitik. Das Fazit hiess, es müsse rasch gehandelt werden, damit das Gleichgewicht zwischen den Generationen nicht vollends aus der Balance gerät.

Bestenfalls ein Tropfen auf den heissen Stein

Und wie ist die Situation ein Jahrzehnt später? «Es hat sich recht wenig getan», ist die ernüchternde Antwort von Martin Eling. Die wenigen Reformen seien bestenfalls ein Tropfen auf den heissen Stein. Das Strapazieren des Generationenvertrags zwischen Jung und Alt gehe schleichend weiter. «Als die ersten Sozialversicherungen ins Leben gerufen wurden, finanzierten mehrere Arbeitnehmende eine Person im Rentenalter, heute sind es drei Arbeitnehmende und im Jahre 2040 werden es noch zwei sein. Das kann nicht gut gehen.»

Zwar sei die Erkenntnis gereift, dass es Reformen brauche. Jedoch bleibe es schwierig, Lösungen zu finden, die auch an der Urne eine Mehrheit finden würden, zumal die Mehrheit der Stimmbevölkerung schon heute über 50 Jahre alt sei. Als ein weiteres Beispiel für schwierige Reformdebatten nennt der HSG-Professor die Diskussionen bei der Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 65 Jahre. Als Argument für ein Nein sei die Lohnungleichheit von Mann und Frau ins Feld geführt worden. «Es ist wenig zielführend, zwei Themen miteinander zu vermischen. Besser wäre, jedes Problem separat anzugehen.» Sozialpolitik sei immer eine Umverteilungspolitik, auch gehe es keinesfalls darum, die Generationen gegeneinander auszuspielen. «Die Frage aber bleibt brisant, wer am Ende die Zeche bezahlt. Und dies ist eindeutig die junge Generation.»

Mehrere OECD-Länder machen es vor

Blickt man auf die jüngsten Proteste in Frankreich, hat eine Erhöhung des Rentenalters überhaupt eine Chance? «Frankreich würde ich eher als Sonderfall bezeichnen. Es gibt bessere Beispiele, in denen Länder auf den demografischen Wandel reagiert haben», betont Martin Eling. Mehrere OECD-Länder hätten das Rentenalter bereits auf 67 oder 68 Jahre erhöht oder seien daran, es zu tun. In Dänemark werde das Rentenalter beispielsweise bei veränderter Lebenserwartung automatisch angepasst. «Wird das Rentenalter bei 65 Jahren belassen, müssen wir uns der Konsequenzen bewusst sein. Höhere Lohnbeiträge und höhere Steuern sind die unausweichlichen Folgen.»

Für ihn mute es geradezu grotesk an, dass Männer und Frauen heute in Pension gingen, welche mit ihren 65 Jahren noch mitten im Leben stehen würden. «Hier wird ein riesiges Potential vergeudet. Die älteren Arbeitnehmenden verfügen über wertvolles Wissen und einen Erfahrungsschatz, der mit ihrer Pensionierung verloren geht.» Ein grosser Teil der neu in Pension gehenden Arbeitnehmenden seien heute leistungsbereit und willens, etwas für die Allgemeinheit zu tun. Im Bereich Freiwilligenarbeit funktioniere der Generationenvertrag auch heute noch sehr gut. Umgekehrt brauche es klar Lösungen für Arbeitnehmende in körperlich anstrengenden Berufen. 

Finanzierung der Pflegekosten noch brisanter

Noch viel problematischer als die Finanzierung der Altersvorsorge sieht Martin Eling die Situation im Gesundheitswesen. Die Finanzierung der Pflegeinitiative, die 2021 an der Urne angenommen worden sei, akzentuiere die prekäre Lage. «Kommt es dazu, dass sich die Leute ihre explodierenden Gesundheitskosten nicht mehr leisten können, werden die Gemeinden einspringen müssen. Es wäre fatal, wenn sie einst gezwungen würden, die Steuergelder für die Defizite im Gesundheitswesen statt in der Bildung einzusetzen.»

Laut dem HSG-Professor gibt es aber auch Lichtblicke. «Das tolle an der Situation in der Schweiz ist, dass sie sich einen funktionierenden Sozialstaat leisten kann. Sie wäre deshalb gut beraten, wenn sie mutig den schleichenden Prozessen entgegentreten würde.» Als konkrete Massnahmen nennt er nebst der Erhöhung des Rentenalters, beispielsweise die Einführung einer automatischen Schuldenbremse bei den Rentenzahlungen, Anreize für Freiwilligenarbeit von Jung und Alt sowie die bessere Unterstützung junger Familien. «In Sachen ausserfamiliärer Kinderbetreuung hinkt die Schweiz vielen OECD-Ländern deutlich nach. Dies könnte ein weiterer wichtiger Stellhebel sein, um den Generationenvertrag wieder ins Gleichgewicht zu bringen.»

Auf der Suche nach einem neuen Generationenvertrag

Nichts zu tun und die Dinge auf uns zukommen zu lassen sei die Schlechteste aller Lösungen, betont Martin Eling abschliessend. Es sei deshalb wichtig, dass die Generationen im Dialog über Reformmöglichkeiten diskutierten. Dies ist am 4. und 5. Mai auch am St.Gallen Symposiums der Fall, das dieses Jahr ebenfalls das Gleichgewicht zwischen den Generationen thematisiert, welches aus der Balance geraten ist. Die 52. Ausgabe der Grossveranstaltung mit 100 Referierenden und 1000 Teilnehmenden aus 100 Nationen widmet sich vor allem der Suche nach einem neuen Generationenvertrag. Zudem diskutiert es die Frage, wie Menschen kurzfristig akute Krisen lösen, ohne langfristig Schaden anzurichten.

Claudia Schmid


Bild: Adobe Stock / Allistair F/peopleimages.com

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