Forschung - 14.09.2023 - 16:00
Mit rund 400'000 anonymisierten HR-Rohdaten aus über 100 renommierten Schweizer Unternehmen ermittelt der «Gender Intelligence Report» jährlich Zahlen zur Entwicklung der Geschlechterdiversität in den Kadern der Schweizer Wirtschaft. Die 7. Ausgabe des Reports legt dar: Es tut sich zu wenig, vor allem an der Basis, wo das Fundament für den Führungsnachwuchs gelegt wird. Die Lecks in der weiblichen Talent-Pipeline sind zwar etwas kleiner geworden, dennoch zeigen die Zahlen lediglich Veränderungen im tiefen einstelligen Prozentpunktebereich. Positionen mit Macht und Einfluss bleiben grösstenteils in Männerhand. Der einschneidendste Verlust an Arbeitskraftpotenzial der gut ausgebildeten Frauen zeigt sich in der Altersgruppe zwischen 30 und 40, wenn Familien gegründet werden und viele Frauen ihre Arbeitspensen reduzieren.
Als einen der Hauptgründe für den trägen Fortschritt führen die Autor:innen konservative Werte sowie rigide Normen und Strukturen in der Geschäftswelt an. Während sich die Anforderungen und Bedürfnisse im Arbeitsmarkt rasant verändert haben, ticken unsere gesellschaftlichen Strukturen noch ähnlich wie in den 50er-Jahren: Der Mann arbeitet Vollzeit, die Frau reduziert das Pensum, sobald eine Familie gegründet wird. Das wirkt sich – bei erreichtem Ausbildungsgleichstand – zunehmend belastend auf die Schweizer Volkswirtschaft aus. Der Fachkräftemangel kann als eine der Folgen davon betrachtet werden.
Aus wirtschaftlicher Sicht wäre eine Angleichung der Arbeitspensen von Männern und Frauen in der Schweiz sinnvoll, unter anderem auch deshalb, weil inzwischen mehr Frauen über tertiäre Abschlüsse verfügen als Männer. Der Teilzeit-Geschlechtergraben ist einer der grössten im Vergleich zu anderen OECD-Ländern. Das hat weitreichende Konsequenzen, nicht nur für Individuen, sondern auch für die Wirtschaft und letztlich auch für das Vorsorgesystem, so eine Schlussfolgerung des Reports.
42,7% aller Frauen in der Schweiz sind Mütter, die mit mindestens einem Kind unter 15 Jahren im gleichen Haushalt leben (BFS, 2021). Derzeit sind 137'000 Mütter nicht erwerbstätig. Im Schnitt bleiben sie 5 Jahre vom Arbeitsmarkt fern, ein Siebtel davon kehrt nicht mehr zurück. Jene, die nach einer Familienpause zurückkehren, arbeiten in sehr tiefen Pensen mit einem Schnitt von 36%. Diese Zahlen belegen den erheblichen Talent- und Produktivitätsverlust, der den Schweizer Arbeitsmarkt zunehmend belastet. Gemäss den Autor:innen der Studie liegt der Ausweg daraus vor allem im Angleichen der Arbeitspensen von Frauen und Männern, basierend auf egalitären und flexiblen Strukturen.
Interessant ist, dass Männer und Frauen eigentlich gleich viele Stunden arbeiten. Schieflage herrscht allerdings bei der Verteilung auf bezahlte und unbezahlte Arbeit: Frauen arbeiten 11.2 Stunden mehr unbezahlt als Männer. Die Studie hält fest: Hätten wir ausreichend bezahlbare externe Kinderbetreuung und Tagesschulen im Angebot und/oder würden Männer die Hälfte der heutigen «Überzeit» an unbezahlter Arbeit von den Frauen übernehmen, hätten Frauen 5.6 Stunden mehr zur Verfügung, um bezahlter Arbeit nachzugehen. Das entspricht 13.3% einer 42-Stundenwoche. Auf die arbeitende weibliche Bevölkerung hochgerechnet, ergäbe das ein Plus von 230'000 Vollzeitäquivalenten.
Angenommen, es würden alle arbeitstätigen Personen in der Schweiz 85% einer 42-Stundenwoche arbeiten – was in Norwegen notabene einem 100%-Pensum entspricht –, würde der Schweizer Arbeitsmarkt um über 87'000 Vollzeitäquivalente anwachsen. Die 15% zusätzliche Zeit würde zudem ermöglichen, die unbezahlte Arbeit gleichmässig auf die Geschlechter zu verteilen. Für Alkistis Petropaki, Geschäftsführerin von Advance, hat dieses zukunftsgerichtete Modell das Potenzial als «Silver Bullet» sowohl eine nachhaltige Fachkräfteversorgung sicherzustellen als auch Geschlechter-Diversität auf allen Führungsstufen zu ermöglichen.
Vollzeitarbeit und physische Präsenz am Arbeitsplatz sind für eine Karriere in der Schweizer Wirtschaft immer noch die Norm – seit 50 Jahren unverändert und auf Basis des «männlichen» Haupternährer-Verständnisses designt. Jüngere Generationen seien jedoch nicht mehr bereit, ausschliesslich Vollzeit zu arbeiten und nach dem herkömmlichen Modell zu leben. Sie wollen egalitäre Beziehungen. Das bedeutet auf Seite Arbeitgebende: egalitäre Strukturen. Diese seien ein «Game-Changer». Kinder bzw. Elternschaft sollten für beide Geschlechter als übliches Lebensereignis angesehen werden. Das bedeutet, Männer auch als Väter wahrzunehmen und zu behandeln, und Frauen – statt sie als potenzielle Mütter mit «Ausfallrisiko» zu betrachten – ganz selbstverständlich auch als potenzielle Karrierefrauen zu fördern. Eine Elternzeit für beide Geschlechter habe erwiesenermassen eine grosse Wirkung darauf, dass Paare auch nach der Familiengründung weiterhin paritätisch unterwegs sind. Zudem haben Männer, die sich auch als Väter engagieren, eine wichtige Vorbildfunktion.
Flexible Strukturen und nicht-lineare Karrierewege würden Frauen und Männern erlauben, auch nach der Familiengründung im Berufsleben weiterzukommen und finanziell eigenständig zu bleiben. Vielversprechender als das immer noch weit verbreitete «Control and Command»-Verständnis sind etwa vertrauensbasierte und ergebnisorientierte Führungsmodelle. Hybrides und flexibles Arbeiten seien zwar bereits verbreitet, jedoch werden die Möglichkeiten längst nicht voll ausgeschöpft. Teilzeitarbeit haftet immer noch ein gewisses Stigma an. Die Zahlen aus der Studie bestätigen: Nur 4% der Mitarbeitenden, die befördert werden, arbeiten in einem Pensum von unter 80%. Dabei belegen zahlreiche Studien deutlich (u.a. Avgoustaki & Bessa, 2019), dass Unternehmen, welche die Bedürfnisse der Mitarbeitenden ins Zentrum stellen, im Vorteil sind. Arbeitskräfte, die sich gehört fühlen, seien engagierter, produktiver, innovativer und loyaler – unbezahlbare Attribute in Zeiten des Fachkräftemangels.
Eine Serie neuer «Best Practices» zu Themen wie flexible Arbeitsformen, egalitäre Strukturen und vertrauensbasierte Führungskultur rundet die Studie ab. Die beitragenden Firmen sind: ABB, Accenture, EY, KPMG, Migros Group, MSD (Merck Sharp Dohme), NatWest Services, Syngenta und Zurich Insurance. Ausserdem Teil des Reports ist ein unter der Leitung von Swiss Re-Delegierten erarbeiteter Ratgeber mit ausführlichen Informationen zu Returnship-Programmen in der Schweiz. Der Begriff bezeichnet strukturierte Wiedereinstiegsprogramme für Arbeitnehmende, die ihre Karriere für einige Zeit unterbrochen haben. Fallbeispiele und Returnship Guide sind hier verfügbar.
Der jährliche Bericht erscheint bereits zum siebten Mal. Er ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Advance, dem Wirtschaftsverband für Gleichstellung, und dem Competence Centre for Diversity & Inclusion (CCDI-HSG) der Universität St.Gallen unter der Co-Leitung von Prof. Dr. Gudrun Sander und Dr. Ines Hartmann. Die Analyse basiert auf anonymisierten Daten von knapp 400'000 Mitarbeitenden aus über 100 Unternehmen und Organisationen in der Schweiz, was über 7,6% der arbeitenden Schweizer Bevölkerung entspricht.
Den vollständigen Bericht finden Sie ab sofort zum kostenlosen Download unter: www.advance-hsg-report.ch/
Bild: Adobe Stock / melita
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