Meinungen - 28.11.2022 - 15:25
Inzwischen sind zahlreiche Kritikpunkte an der WM-Endrunde in Katar ausführlich diskutiert worden. Ein wichtiger Aspekt scheint uns aber dabei bisher übersehen worden zu sein. Es liegt nicht nur an den geradezu mafiösen Strukturen im Weltfussball, dass die Verteidigung von Menschenrechten trotz globaler Aufmerksamkeit immer wieder scheitert. Vielmehr hängt dies auch damit zusammen, dass der Weltfussball eng mit der bestehenden internationalen Ordnung verbunden ist, die er auf spielerische Art feiert und reproduziert. Um dies klarer zu sehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, was Spiel und gesellschaftliche Ordnung verbindet.
Wenn Kinder spielen, dann gehen sie nicht nur einem spassigen Zeitvertreib nach. Sie lernen auch etwas über die Grundregeln ihrer Gesellschaft, die sie im Kleinen und in vereinfachter Form nachspielen. Wenn im Spiel beispielsweise Räuber von der Polizei gejagt werden, dann werden gleichzeitig gesellschaftliche Vorstellungen von Privateigentum und staatlicher Strafverfolgung vermittelt. Abstrakte Konzepte werden so im Spiel direkt erfahrbar.
Wenn Erwachsene spielen, geht es ebenfalls um mehr als um Spass und Zerstreuung. Das gilt insbesondere für Sportereignisse, bei denen Nationalmannschaften vor einem globalen Publikum antreten. Wie wir in einem anfangs 2021 veröffentlichten Fachartikel genauer ausgeführt haben, machen derartige Ereignisse erfahrbar, wie sich die Menschheit als globale Gesellschaft organisiert. Die Welt zeigt sich in diesen Sportereignissen als eine Gesellschaft von Staaten, die über Territorien verfügen und deren Existenz damit legitimiert wird, dass Staaten im Prinzip Nationen verkörpern.
Während der Versuch, beim Feierabendbier über Souveränität, Territorialität und Nationalität als Institutionen der Staatengesellschaft zu diskutieren, schnell im Sande verlaufen dürfte, werden diese abstrakten Konzepte nicht zuletzt bei der WM-Endrunde direkt erfahrbar und als naturgegebene Tatsache vermittelt. Die Welt wird als ein Mosaik von Nationalstaaten inszeniert. Mannschaften, Stadiongäste, Fans an ihren Endgeräten und überhaupt alle Menschen treten als Mitglieder von Nationen in Erscheinung. Alternative Vorstellungen zu dieser Staatengesellschaft, beispielsweise eine globale Gesellschaft von Individuen, werden dadurch an den Rand gedrängt.
Diese national aufgeteilte Welt wird nicht nur als faktisch gegeben, sondern auch als unterhaltsam und wünschenswert präsentiert. Der positive Gesamteindruck liegt nicht zuletzt daran, dass Sport eine besondere Art des Spiels ist. Es ist ein auf Spannung ausgelegter Wettkampf, der den Spielenden physische und mentale Höchstleistungen abverlangt. Sportereignisse nehmen nicht nur die direkt am Spiel beteiligten in Beschlag. Sie sind auch dazu in der Lage, ein grosses Publikum in ihren Bann zu ziehen, das indirekt am Spiel beteiligt wird. Und dieses Publikum erlebt hautnah mit, dass Nationen geradezu selbstverständlich in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Zwischen ihnen herrscht ein Wettbewerb, der auf der Grundlage von gemeinsamen Regeln ausgetragen wird.
Die Rechte von Individuen gehen in diesem Spiel zwar nicht gänzlich unter. So können Antidiskriminierungsnormen im Prinzip verbal und symbolisch sichtbar gemacht werden – zum Beispiel durch die Regenbogenfarben auf Armbinden. Diese Werte werden allerdings nicht als zentraler Bestandteil des Spiels vermittelt. Auf sie wird nur in sehr allgemeiner Form Bezug genommen, während Staaten keine besonderen menschenrechtlichen Gütekriterien erfüllen müssen, um von einer Mannschaft vertreten werden zu können. Einen deutlichen Bezug zu den Themen politische Teilhabe oder Pressefreiheit vermisst man noch mehr. Im Gegensatz dazu sind andere Teilnahmekriterien sehr strikt und eine zentrale Grundregel besagt, dass die teilnehmenden Mannschaften Staaten repräsentieren müssen. International nicht anerkannte Nationen, in Netzwerken organisierte politische Gruppen, transnationale Konzerne und alle anderen menschlicher Organisationsformen dürfen somit nicht teilnehmen. In der Summe spielen Individuen und ihre Rechte eine gewisse, aber eben keine unabdingbare Rolle und werden den konstitutiven Normen zwischenstaatlicher Beziehungen regelmässig untergeordnet.
Die so gesetzten Prioritäten lassen sich beispielhaft am vergangenen WM-Gastgeber Russland veranschaulichen. Kritik gab es auch an der WM 2018, aber weder die politische Lage und die mangelhafte Menschenrechtssituation im Land noch die schon damals erfolgte Besetzung der Krim oder die Einmischungen im Donbass reichten aus, um Russland die Gastgeberrolle streitig zu machen. Es ging vermeintlich noch zu sehr um interne Angelegenheiten und um undurchsichtige Grenzstreitigkeiten.
Das änderte sich 2022 radikal, als mit dem vollumfassenden Angriff auf die Ukraine die Existenz eines souveränen Staates und Mitglieds der Staatengesellschaft gefährdet wurde. Damit wurde auch die internationale Ordnung insgesamt herausgefordert. Die Regeln der Koexistenz, die den friedlichen Wettbewerb ermöglichen, wurden von Russland verletzt und der Ausschluss aus dem Fussball und anderen Sportveranstaltungen folgte auf dem Fuss.
Die klaren Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg zeigen, dass die internationale Ordnung trotz ihrer Unzulänglichkeiten immerhin dazu in der Lage ist, Frieden, Koexistenz und Kooperation als Minimalziele zu unterstützen. Das gilt auch für die Zurschaustellung dieser Ordnung im Fussball. Demgegenüber haben im Fall von Katar weder die brutale Ausbeutung von Arbeitern noch die Diskriminierung von Frauen und LGBTQ+-Personen die Durchführung der WM verhindert. Die Kritik an der WM-Durchführung in Katar und das Sichtbarmachen von Menschenrechtsfragen zeigen aber auch, dass es sich um eine dynamische Ordnung handelt, die weiterentwickelt werden kann. Hierzu eignen sich nicht zuletzt Inszenierungen, die sie im Kleinen nachspielen.
Nun ist nicht zu erwarten, dass allein öffentliche Kritik an mafiösen Strukturen, unterdrückerischen politischen Systemen und Menschenrechtsverletzungen in kurzer Zeit zu einer normativen Umwälzung des Weltfussballs, inklusive der FIFA, und der Staatengesellschaft führt. Aber die globale Reichweite der WM bietet die Chance für Menschenrechte, Toleranz und Respekt im Fussball sowie in der Staatengesellschaft einen grösseren Stellenwert einzufordern. Diese Forderungen in Worten und symbolträchtigen Handlungen deutlich zu machen ist bedeutsam, denn bei diesem Spiel gibt es keine unbeteiligten Zuschauer. An einem globalen öffentlichen Spektakel sind alle beteiligt, sei es auf oder neben dem Platz.
Julian Eckl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität St.Gallen und Bernd Bucher ist Associate Professor an der Franklin University Switzerland.
Bild: Keystone / WM 2022
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