Hintergrund - 18.10.2023 - 08:30
Tunesien ist inzwischen noch vor Libyen der Hub, von dem sich Migranten aus Afrika über das Mittelmeer nach Europa aufmachen, vor allem nach Lampedusa. Sie kommen aus Sudan, Somalia, Sierra Leone, Eritrea, Mali und vielen weiteren Ländern. Das Abkommen sah nun vor, dass Tunesien rund 100 Million Euro erhalten sollte, um die Küstenwache zu stärken, die Flucht über das Meer also zu verhindern. Es ist faktisch gescheitert, denn seither ist einerseits die Zahl der Bootsflüchtlinge massiv gestiegen. Andererseits werden Flüchtlinge in Tunesien Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, etwa Pogromen, die von der Staatsgewalt mindestens toleriert werden. Eine Rückführung nach Tunesien ist ihnen also nicht zuzumuten, auch nicht von den genannten Asylzentren aus. Gescheitert ist das Abkommen auch, da weitere Finanzhilfen an Bedingungen geknüpft sind, die der autoritär regierende Präsident Kais Saied von vornherein nicht akzeptieren wollte.
Grundsätzlich besteht wohl in Wissenschaft und Praxis ein breiter Konsens, Abkommen seien der sinnvollste Weg, Migration zu steuern. Dazu muss man natürlich die Interessenslage einerseits der EU, andererseits der potentiellen Partner betrachten. Die EU ist daran interessiert, informelle Migration nach Möglichkeit zu unterbinden, reguläre Migration in die Arbeitsmärkte hingegen zu fördern. Ein Kernbestandteil ist die Rückführung von Migranten, die sich ohne Bleibeberechtigung in der EU aufhalten. Als Gegenleistung bieten die EU oder Mitgliedsstaaten ein vernünftiges Kontingent formeller Migration für dort ausgebildete, meist junge Leute, die eine Perspektive in Europa suchen und auch die Chance haben, einen Job zu finden. Eine weitere Komponente ist Entwicklungshilfe, um einen solchen Deal attraktiver zu machen.
Wie bereits erwähnt sind solche Abkommen mit Ländern wie Tunesien oder Libyen aus menschenrechtlicher Perspektive problematisch. Es gilt das Prinzip des Non-Refoulement: Flüchtlinge dürfen nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung oder gar Folter droht. In Libyen gibt es ohnehin keine Staatsgewalt, mit der man verhandeln kann. Am Ende würden lokale Warlords finanziert.
Das stimmt – die Türkei nimmt seit einiger Zeit keine Flüchtlinge mehr zurück. Doch zunächst hatte das Abkommen tatsächlich funktioniert, da es den Interessen beider Seiten sowie europäischem wie internationalem Recht entsprach. Im Zuge des Arabischen Frühlings positionierte sich Präsident Erdogan als Führungsfigur einer neuen Ordnung in der Region, zusammen mit Katar und den ägyptischen Muslimbrüdern, die mit Mohammed Mursi bis zum Militärputsch im Sommer 2013 rund ein Jahr lang den Präsidenten stellten. So inszenierte er sich als Schutzpatron der syrischen Flüchtlinge. In diesen erkannte er potenzielle Gefolgschaft im eigenen Land und gut ausgebildete (meist informell angestellte) Arbeitskräfte, um die Wirtschaft zu stärken.
Heute stellen syrische Flüchtlinge für Erdogan eher eine Hypothek dar. Immerhin beherbergt die Türkei mit über vier Millionen die absolut höchste Zahl an Flüchtlingen weltweit. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen und finanziellen Lage ist ein relativ kritisches bis feindseliges Klima entstanden. Die einheimische Bevölkerung fühlt sich benachteiligt. Durch die Inflation der letzten Jahre ist sie schwer getroffen. Besonders problematisch ist die Lage in den Gebieten der verheerenden Erdbeben im Frühjahr. Deswegen hat Erdogan auch kein größeres Interesse mehr, Leistungen für Flüchtlinge zu bieten. Ihm wäre es durchaus recht, wenn sie nach Europa gehen oder wieder zurück nach Syrien.
Ausgangspunkt wären sicher die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Europa, vermutlich auch grössere Kontingente für Migranten aus der Türkei. Nicht nur aufgrund der schlechten Wirtschaftslage, auch aufgrund der Wiederwahl Erdogans zieht es oppositionelle, gut ausgebildete Türkinnen und Türken ins Ausland. Erdogan wird ihnen keine Steine in den Weg legen. Er braucht Investitionen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Aber er ist als komplizierter Verhandlungspartner bekannt – deswegen muss man damit rechnen, dass er weitere hohe Forderungen stellt.
Das ist eben ein Punkt, auf den Wissenschaftler schon seit längerem hinweisen. Es ist notwendig, nicht nur mit Mittelmeeranrainerstaaten Abkommen zu schließen, sondern auch beispielsweise mit Nigeria. Auch in solchen Fällen ginge es darum, Kontingente für Studierende und gut Ausgebildete einzurichten und im Gegenzug die Rückführung abgelehnter Asylbewerber umzusetzen.
Zudem muss man schauen, welche Länder allenfalls bereit wären, zumindest übergangsweise Flüchtlinge aufzunehmen. Im Rahmen eines UNHCR Programms werden sie aus libyschen Camps evakuiert und mit ihrem Einverständnis nach Rwanda gebracht. Wird der Asylstatus bestätigt, werden sie in aufnahmebereite Länder ausgeflogen, z.B. Norwegen oder Kanada. Sonst können sie in Rwanda bleiben. Aber dieses Programm ist zu klein, um mehr als einen Tropfen auf den heissen Stein darzustellen. Der Plan der britischen Regierung unter Boris Johnson, Asylbewerber während des Verfahrens im grossen Stil nach Rwanda zu fliegen, ist aufgrund rechtlicher Einwände momentan sistiert.
In der Tat kuriert man mit den besprochenen Massnahmen nur Symptome. Die Ursachen der Migration – Staatszerfall, Korruption und Misswirtschaft, Klimawandel, Unterdrückung, Demographie, usw. – werden dadurch nicht berührt. Solange sie in ihren Herkunftsländern keine Perspektiven sehen, werden Menschen fliehen, auch wenn sie sich dabei in Todesgefahr begeben.
Den öffentlichen Diskurs prägen die lautesten Stimmen. Das sind auf der einen Seite Menschenrechtsorganisationen, welche die humanitären Verpflichtungen Europas herausheben, auf der anderen Rechtsnationale, die Abschottung propagieren. Beide spielen die Karte der Emotionen und Affekte. Hingegen muss die Politik Lösungen finden, die möglichst effektiv und umsetzbar sind, nationalen Interessen folgen sowie rechtlichen und ethischen Standards genügen. Und wenn das noch nicht anspruchsvoll genug ist, sollen Problemlösungen auch langfristig tragfähig sein, also keine neuen Folgeprobleme erzeugen. Pragmatische Ansätze finden sich dann zwischen Hammer und Amboss wieder – niemand ist wirklich zufrieden. Und in der Tat bieten auch die skizzierten Abkommen genügend Angriffspunkte für Kritik aus verschiedenen Perspektiven.
Bild: Adobe Stock / studio v-zwoelf
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