Meinungen - 12.09.2017 - 00:00
12. September. Es gab noch einen biblischen Hoffnungsschimmer: Die Letzten werden die Ersten sein, heisst es doch im Neuen Testament. Wir wissen nicht, ob Matthäus diesen Satz auch für Wahlprogramme tauglich befunden hätte.
Das nach langem Warten schliesslich auch von CDU/CSU vorgelegte Programm enthielt leider keine Überraschungen, keine außergewöhnlichen Ideen. Es ist die Ausgeburt soliden Handwerks im Schnitzen alten Holzes. Auch wenn ein Berg sehr lange kreisst, gebiert er eben doch nur eine Maus.
Das freilich sieht bei den anderen Parteien ganz ähnlich aus und müsste daher kaum gesondert erwähnt werden, setzte das Programm der Unionsparteien nicht in einem seiner drei Schwerpunkte auf einen wohl bekannten Begriff: die Vollbeschäftigung.
Vollbeschäftigung als politischer Selbstläufer?
An der sind wir in Deutschland nach gängiger Zählung mit 5,5 Prozent Arbeitslosenquote schon recht nahe dran. Vollbeschäftigung als politischer Selbstläufer also, wenn die wirtschaftliche Lage so bleibt, wie sie ist? Träumt weiter. Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie des McKinsey Global Institute lässt sich die Hälfte aller mit insgesamt 16 Billionen Dollar bezahlten Arbeit in der globalen Wirtschaft durch bereits verfügbare Technologien ersetzen. Die meisten Jobs, wie wir sie heute kennen, werden in den nächsten Jahren verschwinden. Dafür werden viele neue, andere entstehen.
Die Übergangsphase zwischen dem Arbeitsmarkt von heute und morgen aber wird hart werden. Nicht jeder Taxifahrer kann Programmierer, nicht jede Versicherungsangestellte Designerin neuer Computerspiele werden. Die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung, deren Jobs von Maschinen und Software billiger und besser gemacht werden können, wird zum Digitalprekariat – «wirtschaftlich überflüssige Menschen», wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari sie nennt. Sie sind nicht nur arbeitslos, sondern nicht mehr kompatibel mit den Anforderungen der digitalen Wirtschaft.
Globale Arbeitsmarktumwälzung
Das wird die grösste globale Arbeitsmarktumwälzung seit der industriellen Revolution. Wir können dann schon über Halbbeschäftigung froh sein. Man braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche Folgen das hat. Nicht dazugehören zu können macht einsam und aggressiv. Anfällig auch für die Vorbeter der einfachen Wahrheiten und Lösungen. Was sollen diese Menschen tun, wenn keine Arbeit mehr für sie da ist? Und woher nehmen sie ihr Selbstwertgefühl, das in unserer Gesellschaft ganz wesentlich von der eigenen Arbeit gespeist wird?
Wie dieser Übergang gemeistert und sozial abgefedert werden kann, das müssten die beiden ehemaligen Volksparteien zum Thema machen. Zum Beispiel durch eine Unternehmenssteuerreform, die radikal entbürokratisiert und entlastet, und alle Maßnahmen, die in die Aus- und Weiterbildung der Belegschaft gehen. Stattdessen betet man lieber das Goldene Kalb der Vollbeschäftigung an. Das wird sich rächen. Die Umkehr des Matthäus-Satzes lautet: Die Letzten werden die Letzten sein.
Der Text erschien zuerst in der WirtschaftsWoche am 7. Juli 2017.
Miriam Meckel ist Herausgeberin der WirtschaftsWoche und Professorin für Corporate Communication an der Universität St.Gallen (HSG).
Bild: photocase / zettberlin
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