close

Hintergrund - 25.03.2020 - 00:00 

Uni-Alltag in Zeiten von Corona

Wir sitzen alle in einem Boot. Ich versuche, Ruhe zu bewahren und das Ruder in die Hand zu nehmen. Dabei paddle ich nach links, mal nach rechts oder lasse mich kurz von den Wellen tragen. Aus dem Uni-Alltag einer HSG-Studentin in Zeiten von Corona. Von Studentenreporterin Anna Schreiter.

 

25. März 2020.

Montag, 16.03. – «Weltuntergang bei schönem Wetter»

Es ist Montagmorgen. Mein Wecker klingelt heute das erste Mal seit Wochen nicht. Ich kann ausschlafen – immerhin wird heute nicht viel passieren. Die Uni ist zu, der Präsenzunterricht fällt ab heute aus. Der Unisport ist auch geschlossen, heisst für mich konkret: Kein HipHop-Kurs heute. Die Bibliothek ist noch geöffnet – doch wird es da noch freie Plätze geben? Vielleicht hätte ich doch früh aufstehen sollen, um noch einen guten Platz wie in der Lernphase ergattern zu können? Vielleicht ist die Bib aber auch völlig leer? Immerhin sind die meisten meiner Kollegen bereits nach Hause geflüchtet und auch meine Mitbewohnerinnen sind bis auf eine längst zu Hause bei der Familie.
 

Weshalb ich hier bleibe? Nun, was würde ich zu Hause in Deutschland wohl machen? Würde ich wirklich lernen oder würde sich meine Motivation gänzlich verabschieden? Meine Grosseltern würden mich dann sicher gerne sehen wollen! Doch ist das zurzeit überhaupt eine gute Idee?
 

Seit Freitag habe ich schon leichte Halsschmerzen. Keine Panik, denke ich mir. Halsschmerzen heissen nicht, dass ich den Virus in mir trage. (Nebenbei stelle ich die These auf, dass die Frage «Der oder das Virus?» gerade Nationen spaltet.) Doch ausschliessen kann ich es nicht. Lieber kein Risiko eingehen. Immerhin dauert eine Reise von St.Gallen bis nach Hause etwa acht bis neun Stunden. Vier Mal Umsteigen, fünf verschiedene Züge, hunderte von Menschen – genug Gründe, um sich anschliessend in Selbstquarantäne zu begeben. Ich bleibe also vorerst in St.Gallen.
 

Nachdem ich ausgeschlafen frühstücke, mache ich mich auf den Weg, um gemeinsam mit Kollegen den ersten «Keine-Uni-Unitag» zu bewältigen. Gleichzeitig heisst das für mich, einen ersten Einblick in eine Online-Vorlesung in Zoom zu wagen. Das Programm funktioniert besser als gedacht und so können sogar wie im «normalen» Unterricht Fragen während der Vorlesung gestellt werden.
 

Die Freude über den Tag nimmt jedoch schlagartig eine drastische Wendung als wir live die Pressekonferenz des Bundesrates anschauen. Die Situation scheint ernstere Züge anzunehmen, als bisher erwartet. Kurze Zeit später gehen wir nach Hause – jeder für sich. Dabei fühlt sich die Lage an wie Weltuntergang – bloss bei schönem Wetter.

Dienstag, 17.03. – «Stein, Papier, Schere, Echse, Spock»

Die Bibliothek und auch TheCo sind nun zu. Doch wo lernt man, wenn nicht dort? Wo spielt man jetzt noch Klavier zwischen einzelnen Lerneinheiten, um sich zu entspannen und wo trifft man sich nun noch auf einen Kaffee in den Pausen? Vor einigen Tagen habe ich den Virus noch selbst als relativ harmlos eingeschätzt und mit einer Grippe verglichen. Nun gehöre ich zu denjenigen, die sich per Fuss-Gruss und Ellenbogen «Hallo» sagen. Meine Freundin Kaja und ich haben uns schon einen eigenen Gruss mit den Füssen ausgedacht. Ich frage mich, wie man sich alternativ noch begrüssen und verabschieden könnte. Vielleicht per Spock-Zeichen? (Dabei denke ich direkt an The Big Bang Theory und Sheldons Spiel «Stein, Papier, Schere, Echse, Spock». Vielleicht schaue ich alle Staffeln der Serie noch einmal von vorne, falls es tatsächlich zur Ausgangssperre kommen sollte.)
 

Auch das Mindset meiner anderen Kollegen, die in St.Gallen geblieben sind, hat sich schlagartig verschärft. Heute Abend wollten wir eigentlich einen Spieleabend machen. Kommen will nun keiner mehr. Eher diskutieren wir darüber, uns virtuell via Zoom zu treffen, was meine Nachbarsfreundin Elisabeth und ich erfolgreich austesten. Social Distancing einzuhalten ist gar nicht so einfach, wenn man es gewöhnt ist, sich regelmässig zu sehen.

Am Ende des Tages stelle ich fest, dass ich meinen zukünftigen Alltag schnellstmöglich besser strukturieren sollte, um motiviert und positiv zu bleiben. Wo ein Wille ist, ist immerhin auch ein Weg!

Mittwoch, 18.03. – «Vorlesung in Jogginghose»

Ich fange an, die kleinen Dinge zu geniessen, denen ich zuvor viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Ich beginne damit, kleine Bastelarbeiten in meinem Zimmer zu erledigen, die ich seit Monaten vor mir herschiebe. Der tägliche Spaziergang durch den anliegenden Park wird zu meinem neuen Highlight, vor allem als ich das Vogelgehege neben dem Historischen und Völkerkundemuseum entdecke – wobei ich dem Satyrtragopan (dem schönsten seiner Gattung) für kurze Zeit meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke. Die WG-Couch im Flur funktioniere ich zu meinem neuen Schreibtisch um.
 

Mir fällt auf, dass ich mir noch Bücher für Wirtschafts- und Steuerrecht besorgen wollte. Hat die SKK eventuell noch offen? Ein kurzer Blick auf die Homepage reicht aus, um zu wissen, dass meine Erkenntnis zwei Tage zu spät kommt. Doch es scheint, als wäre es nun möglich, jegliche Bücher online zu bestellen und sich zuschicken zu lassen – «Meine Rettung!», denke ich und kaufe das erste Mal in meinem Leben online ein Literaturbuch.
 

Heute wäre der Tag gewesen, an dem mein gesamter Marketing-Communications-Kurs nach Zürich gefahren wäre, um sich die Produktionshallen von FREITAG anzuschauen. Stattdessen sitze ich in Jogginghose auf dem Sofa und esse Schokolade, während ich dem Gastvortrag via Zoom lausche. Die einzige in bequemen Klamotten bin ich allerdings nicht – unser Dozent fragt uns zu Beginn der Stunde in einer Kurzumfrage unter anderem, wer gerade Jogginghose/Pyjama trägt. Das Ergebnis: 50% – auch für ihn eine ungewohnte Situation: «I’ve never taught a class with students listen to me in jogging outfit.»
 

Während meine Klasse und ich einen tieferen Einblick in die Welt von FREITAG erhalten, videochatten meine Vorstandskollegen vom HSG-Studierendenmagazin prisma via Microsoft Teams. Physische Treffen werden die nächsten Wochen und Monate erst einmal nicht stattfinden können. Ob sich das Vereinsleben der Uni nun gänzlich online abspielen wird, frage ich mich und stelle mir vor, wie der Weinverein über Skype anstösst.

Donnerstag, 19.03. – «Ein sportlicher Tag»

Als ich heute mit dem Fahrrad nach Wittenbach zu meiner Kollegin Kaja fahre, ahne ich nicht, welche Sporteinheit mir auf dem Rückweg mit meinem gefühlt 50 Kilogramm schweren Eingang-Stadtfahrrad mit leichtem Platten bevorstehen wird. Doch der Bus ist keine Alternative für mich. Immerhin sollen die öffentlichen Verkehrsmittel so gut es geht vermieden werden. Ich betrachte die kleine Radtour als Sportersatz für den Jazzdance-Kurs, den ich heute eigentlich besucht hätte und trete voller Elan in die Pedale.
 

Kaja und ich treffen uns heute, um gemeinsam die Informatik-Übung zu lösen. Sie selbst verlässt das Haus nur noch, um ein wenig Sonne und frischen Sauerstoff zu tanken oder um gemeinsam mit mir und einer Handpumpe den Versuch zu starten, mein Fahrrad aufzupumpen – selbst ist die Frau!
 

Als ich am Abend völlig geschafft und aus der Puste zu Hause ankomme, klopfe ich mir metaphorisch auf die Schulter. Heute war ein sportlicher Tag. Später schaue ich mir noch die Rechtsvorlesung von Dienstag und die dazugehörige Übung von Mittwoch an, welche ich beide Dank dem neuen Tool Zoom, das Aufzeichnungen erlaubt, auch bis zu einem Monat später anschauen kann – in meinem Tempo und so oft ich will. So langsam sehe ich die Chancen, die uns die Situation, so schlimm sie sein mag, mit sich bringt.
 

Freitag, 20.03. «Schlange stehen wie in der DDR»

Seit letztem Semester nehme ich am Mentoring-Programm der Uni teil. Bisher bin ich immer nach Zürich gefahren, um dort meine Mentorin an ihrem Arbeitsplatz zu besuchen. Da das zurzeit allerdings nicht die beste Idee zu sein scheint, findet unser Treffen heute via Microsoft Teams statt. Sie erzählt mir, dass sie heute mit mehreren Menschen in einer langen Schlage anstehen musste, als sie in den Supermarkt wollte. Gerade einmal 60 Personen durften den Einkaufsmarkt gleichzeitig betreten. Das lange Anstehen und Warten vor einem Laden erinnert mich an DDR-Geschichten meiner Mutter, nur dass in diesen von keinem Sicherheitsabstand die Rede ist. Stundenlang stand sie donnerstags nach der Schule beim Metzger Schlange, ohne zu wissen, was am Ende noch zu haben war.
 

Gleichzeitig denke ich an meinen Ingwer-Engpass. Normalerweise trinke ich jeden Morgen einen Ingwer-Zitronen-Tee. Doch die letzten Tage gab es keinen Ingwer mehr in den Supermärkten zu kaufen. Ob viele wohl denken, mit Ingwer bekämpfe man Corona, frage ich mich und mache metaphorische Freudensprünge, als meine Mitbewohnerin mit einer dicken Ingwerknolle nach Hause kommt.
 

Den Abend verbringe ich mit zwei Kolleginnen im Candlelight-Whatsapp-Call-Style. Wir essen Pasta und stossen mit einem Glas Rotwein auf unsere Freundschaft an – jeder für sich und doch gemeinsam.

Samstag, 21.03. «5-Saiten-Gitarrenstück»

Ich muss sagen, ein bisschen überrascht vom Bundesrat bin ich schon. In Anbetracht der Zahlen und des Verhaltens vieler Bürger und Bürgerinnen war ich in der festen Annahme, dass ab heute eine Ausgangssperre verhängt werden würde. Stattdessen verkündet der Bundesrat in der gestrigen Pressekonferenz lediglich, dass Gruppierungen mit mehr als fünf Personen mit einer Busse rechnen müssten. Allerdings ist das Wetter heute nicht mehr so schön wie die letzten Tage. Es ist grau und nieselt leicht – typisch St.Gallen, denke ich mir und wage einen Gang nach draussen, um mir ein Bild der sich herumtreibenden Menschen zu machen. Jetzt, wo einen die Sonne nicht mehr wärmt und auch keine Vögel mehr fröhlich zwitschern, begegne ich nur wenigen Leuten, die sich aus dem Haus wagen. Vielleicht ist das schlechte Wetter genau das, was diese Krisensituation jetzt braucht?
 

Während meines Spaziergangs laufe ich an einem Spielplatz vorbei. Er ist leer, grau und schaut traurig aus. Gestern noch konnte ich im Park Kinder sehen, die fröhlich über einen Spielplatz sprangen, lachten und wild schaukelten. Von meiner Mama erfahre ich, dass die Spielplätze in meiner Heimatstadt in Deutschland bereits abgesperrt wurden. Wieso nicht in der Schweiz? Wäre heute kein schlechtes Wetter gewesen, wären die Spielplätze bestimmt voller Leben gewesen ...
 

Zu Hause nehme ich meine Gitarre zur Hand. Dass ich in letzter Zeit kaum bzw. eigentlich gar nicht mehr gespielt habe, merke ich daran, dass ich erst jetzt sehe, dass eine der Saiten gerissen ist. Schnell in einem Musikladen Ersatz besorgen, kann ich in Anbetracht der Situation wohl nicht. Was solls, sage ich mir und lerne, dass es auch mit fünf Saiten schön klingen kann, Gitarre zu spielen und den Tag singend zu beenden. Das sollte ich jetzt wieder öfter tun!

Sonntag, 22.03. «Eine lange To-Do-Liste»

Die erste Woche ohne täglichen Gang zur Uni, spontanem Leute-auf-dem-Campus-Begegnen und Vorlesungen im Audimax neigt sich allmählich dem Ende zu. Nun verlässt mich auch meine letzte dagebliebene Mitbewohnerin und ich bin allein in der WG. Aus Angst, die nächsten Tage und Wochen vor lauter Trägheit und Eintönigkeit zu vereinsamen, nehme ich mir ein leeres Blatt und einen Stift zur Hand und fange an, eine Liste mit Dingen zu schreiben, von denen ich an jedem Tag mindestens eine Sache machen möchte. Die Liste reicht von Kochen und Sport bis Frühjahrsputz und Netflix.
 

Es ist Sonntagabend und ich stelle mir nun doch einen Wecker für Montag. Vorlesungen habe ich morgen zwar keine, aber meine To-Do-Liste ist lang und ein gewisser Grad an Selbstdisziplin ist zurzeit sowieso angebracht. Vielleicht ist es noch nicht soweit, dass sich die Welt dem Untergang neigt und während sich diese durch den aktuell geringeren CO2-Ausstoss ein kleines bisschen erholen kann, versuche ich das beste aus der Situation zu machen – wir sitzen alle in einem Boot.

Anna Kati Schreiter studiert Wirtschaftswissenschaften an der Universität St.Gallen.

 

Entdecken Sie unsere Themenschwerpunkte

north