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Forschung - 27.09.2024 - 11:00 

«Mutter unbekannt»: Studie zu Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002

Im Auftrag der Kantone Zürich und Thurgau haben Forscherinnen unter der Leitung von HSG-Professorin Rita Kesselring die Adoption indischer Kinder in der Schweiz untersucht. Sie kommen zum Ergebnis, dass in den Verfahren zahlreiche gesetzliche Vorgaben missachtet wurden.

Das Bundesamt für Statistik weist die Zahl adoptierter ausländischer Kinder seit 1979 aus. Zwischen 1979 und 2002 wurden in der Schweiz 2278 Kinder aus Indien adoptiert, davon 256 im Kanton Zürich, 30 im Kanton Thurgau. Die Vermittlungen liefen hauptsächlich über römisch-katholische Organisationen in Indien. Indien war im Untersuchungszeitraum bei internationalen Adoptionen für die Schweiz das wichtigste Herkunftsland.

Behördenversagen in den Kantonen Zürich und Thurgau

Die Forscherinnen Rita Kesselring (Universität St.Gallen) und Andrea Abraham (Berner Fachhochschule) sowie die Historikerin Sabine Bitter kommen in ihrer Untersuchung zum Resultat, dass die beiden Kantone ihre Verantwortung bei Adoptionen aus Indien nicht ausreichend wahrnahmen. Sie zeigen Rechtsverstösse auf, die bereits vor der Aufnahme indischer Kinder begannen, sich während des Pflegeverhältnisses fortsetzten und beim Adoptionsentscheid endeten. 

Dabei fällt auf, dass die Behörden in vielen Fällen einer Adoption zustimmten, ohne dass ihnen die in der Schweiz gesetzlich verlangten Verzichtserklärungen der indischen Eltern bzw. Mütter vorlagen. Die Analyse von 48 Adoptionsfällen zeigt auf, dass es sich dabei um einen systematischen Mangel handelt, der auch für Indien-Adoptionen in anderen Kantonen Bedeutung hat. Dieser Befund stellt die Rechtmässigkeit solcher Adoptionsentscheide auf grundsätzliche Weise in Frage.

Mangelhaft fiel in Zürich und im Thurgau auch die Erteilung der Bewilligung für jeweils eine Adoptionsvermittlungsstelle im Kantonsgebiet aus, die Kinder aus Indien in die ganze Schweiz vermittelten. Während der Kanton Thurgau die Vermittlungsstelle zumindest korrekt beaufsichtigte, nahm die Aufsichtsbehörde im Kanton Zürich diese Verantwortung nicht wahr.

Lage in Indien 

Die Schweizer Vermittlungsstellen arbeiteten mit ausgewählten indischen Institutionen zusammen und unterstützten sie dafür finanziell. Die ledige Mutterschaft war ein zentraler Grund dafür, dass Kinder zur Adoption gelangten. Über die genauen Trennungsumstände wird in der indischen Gesellschaft bis heute geschwiegen. Hilfe erhielten unehelich schwangere Frauen oftmals nur zu einem hohen Preis: Der Trennung von ihrem Kind. 

Adoptivfamilien in der Schweiz

Zürcher und Thurgauer Ehepaare adoptierten ein Kind primär wegen Kinderlosigkeit, familialen Idealvorstellungen oder aus humanitären Gründen. Indien als Herkunftsland war kein Kriterium. Die Adoptivfamilien bekamen wenig Unterstützung von Gesundheits- und Bildungsinstitutionen und waren mit Bindungsproblemen und Rassismuserfahrungen weitgehend auf sich allein gestellt.

Suche nach Herkunft

Herkunftssuchen scheitern oft an fehlenden oder falschen Informationen, am Informationsmonopol der Vermittlungsstellen, an den geschlossenen Archiven indischer Gerichte. Dazu kommt die rechtliche und moralische Frage, ob das Recht von Kindern auf Herkunftswissen höher zu gewichten ist als das Recht bzw. der vermutete Wille der Mütter auf Anonymität.

Fazit

Das Stigma der kinderlosen Ehe in der Schweiz und das Stigma der unehelichen Mutterschaft in Indien schufen einen Adoptionsmarkt von Angebot und Nachfrage, der auch von finanziellen Interessen durchzogen war. Die Schweizer Behörden wussten von zahlreichen Fällen problematischer bis rechtswidriger Adoptionsvermittlungen aus Indien. Die Forschungsergebnisse werfen die Frage auf, wie es um die Rechtsgültigkeit von Adoptionsentscheiden steht, die unter solchen Bedingungen gefällt wurden. Kindsentziehungen und das Verschwinden von Kindern können nicht ausgeschlossen werden, wenn Kinder ohne Herkunftsnachweis zur Adoption freigegeben wurden.

Empfehlungen

Der Auftrag der Kantone Zürich und Thurgau an die Forscherinnen umfasste auch die Aufforderung, Empfehlungen abzugeben. Rita Kesselring, Andrea Abraham und Sabine Bitter kommen daher zu folgenden Anregungen:

  • Die Rechtmässigkeit von Adoptionsentscheiden, die ohne vorliegende Verzichtserklärungen der indischen Eltern bzw. Mütter getroffen worden sind, wird grundsätzlich überprüft. Für die adoptierten Personen darf dies nicht mit Nachteilen verbunden sein. Eine institutionalisierte, interdisziplinär zusammengesetzte Taskforce überprüft auf Anfrage seitens adoptierter Personen Dokumente und unterstützt die Herkunftssuche. Die Schweiz klärt mit Indien, wie Betroffene Einsicht in ihre indischen Gerichtsakten bekommen können, um ihr Recht auf Herkunftswissen geltend zu machen.
  • Schweizer Adoptionsvermittlungsstellen werden gemeinsam mit ihren angegliederten Hilfswerken und Stiftungen von den Aufsichtsbehörden aufgefordert, ihre Finanzflüsse offenzulegen. Die Aufsichtsbehörden kommen ihrer Pflicht nach, die Aktenbestände der Vermittlungsstellen zu sichern, wenn diese ihre Tätigkeit beenden.
  • Die Schweiz erlaubt Adoptionen von Kindern nur noch aus Staaten, die das «Haager Adoptionsübereinkommen» und die Kinderrechtskonvention ratifiziert haben und nachweisen können, dass Frauen ihre reproduktiven Rechte durchsetzen können und eine Wahlfreiheit haben.
  • Ein nationales Forschungsprogramm leistet eine vertiefte länderspezifische Aufarbeitung internationaler Adoptionen. Auch gegenwärtige Reproduktionspraktiken wie Leihmutterschaft und weitere Formen der Familienbildung mit ihren transgenerationalen Folgen werden untersucht.


Die Webseite www.adoptionsforschung.ch begleitet das Forschungsprojekt und macht die Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Sie wird im Januar 2025 auch in englischer Sprache abrufbar sein. Sie bietet mit zusätzlichen Interviews, Fotos, Audios und Videos einen wissenschaftlich abgestützten, anschaulichen Einblick ins Thema internationale Adoptionen aus Indien.

Das Buch «Mutter unbekannt: Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002» (Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring, Hg.) erscheint im Chronos Verlag. Das Buch kann als E-Book (open access) kostenlos heruntergeladen werden. Im Januar 2025 erscheint die englische Übersetzung als E-Book, ebenfalls beim Chronos Verlag.

Bild: Chronos Verlag

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