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Forschung - 26.11.2024 - 10:30 

Steuerzahler finanzieren Autofahrer: Bevölkerung schätzt Effekte des Pendlerabzugs falsch ein

Die Pendlerpauschale ist beliebt als Instrument zur Senkung der eigenen Steuerlast. Eine Studie der Universitäten St.Gallen und Konstanz mit Blick auf die Situation in Deutschland zeigt: Die wenigsten wissen, dass die Pendlerpauschale die Verteilungsungleichheit verstärkt und sich negativ auf Umwelt und Klima auswirkt.

Im Kanton St.Gallen wurde am 24. November 2024 die Erhöhung des Pendlerabzugs angenommen. Warum eine solche steuerliche Begünstigung problematisch sein kann, haben HSG-Forscher Adrian Rinscheid und sein Co-Autor Marius R. Busemeyer von der Universität Konstanz am Beispiel Deutschlands erforscht. Die Ergebnisse trugen sie zusammen im Policy Paper mit dem Titel «Die heilige Kuh des deutschen Steuerrechts: Wie sich das verzerrte Bild von der Entfernungspauschale korrigieren liesse».

In einem Experiment ermittelten sie, ob die Befragten ihre Einschätzung zur aktuellen Regelung und verschiedenen Reformoptionen ändern, wenn sie korrekte Informationen über Verteilungs- und Umweltwirkungen erhalten. Die Resultate deuten an, dass die Wirkungen der Pendlerpauschale dem Grossteil der Bevölkerung nicht bewusst sind. Informationen über Effekte der Regelung führen zu einer geringeren Akzeptanz der derzeitigen Regelung und erhöhen die Bereitschaft, eine Reform zu unterstützen. 

Pauschale als heilige Kuh des deutschen Steuerrechts: Zentrale Befunde der Studie 

In politischen Debatten zur Entfernungspauschale entsteht häufig der Eindruck, dass die Regelung insbesondere Bezieher:innen von kleineren Einkommen zugutekommt. «Dies ist allerdings nicht der Fall. Von der Entfernungspauschale in Deutschland profitieren vor allem einkommensstarke Gruppen, deren Steuerlast um bis zu 2.000 Euro sinken kann», sagt Adrian Rinscheid. Darüber hinaus habe die Regelung nachteilige Auswirkungen auf Umwelt- und Klimaschutz: Sie fördere langfristig das Wachstum des Verkehrsaufkommens und den Trend zu langen Arbeitswegen, da die Kosten langer Pendlerwege durch die Pauschale teils kompensiert werden. Das Umweltbundesamt habe zudem ermittelt, dass die Entfernungspauschale jährlich zu Treibhausgasemissionen in Höhe von 4 Mio. Tonnen CO2-Äq. führe. «Unsere Ergebnisse lassen sich auf zwei zentrale Punkte kondensieren», fasst Rinscheid die Untersuchung der Forschungsarbeit zusammen: 

  1. Befund: «Erstens zeigen unsere Daten, dass weite Teile der Bevölkerung die tatsächlichen Auswirkungen der Pendlerpauschale auf Umwelt und ökonomische Ungleichheit falsch wahrnehmen oder zumindest unterschätzen.» Eine Mehrheit der Befragten bewerte die Verteilungs- und Umweltwirkungen der Pauschale nicht als problematisch, obwohl die negativen Auswirkungen der aktuellen Regelung gut dokumentiert sind. 
    Warum ist das so? Eine erste Erklärung dafür sehen die Verfasser der Publikation in der langen Geschichte der Pendlerpauschale, deren Vorläufer bis in das Deutsche Reich zurückreichen. Somit handelt es sich für viele um ein lieb gewonnenes Instrument zur Senkung der eigenen Steuerlast. Die Wahrnehmung, dass die Pendlerpauschale insbesondere Bezieher:innen kleiner und mittlerer Einkommen zugutekommt, wird von der Komplexität der Regelung und der Kommunikation politischer Akteure begünstigt, für die Umweltschutz und Verringerung der Einkommensungleichheit keine Priorität haben. 
    Eine zweite mögliche Erklärung für das Auseinanderklaffen von Wahrnehmungen und Wirklichkeit könnte sein, dass sich eine tiefgreifende Reform der Regelung immer wieder als politisch kaum durchsetzbar erwiesen hat, so dass es keinen wirklichen Diskurs über mögliche Alternativen gab. Nicht zuletzt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2008, das den Gesetzgeber zur Wiedereinführung der zuvor kurzzeitig abgeschafften Regelung verpflichtete, dürfte dazu beitragen, dass eine Reform der Pendlerpauschale auf politischen und juristischen Widerstand stossen würde. «Daher verwundert es nicht, dass die Pauschale von einem Professor für Verwaltungsrecht einmal als heilige Kuh des deutschen Steuerrechts bezeichnet wurde», betont Rinscheid.
  2. Befund: Dennoch deutet die Untersuchung darauf hin, dass die öffentliche Meinung zur Pendlerpauschale nicht in Stein gemeisselt ist. Wenn Bürger:innen besser über die tendenziell negativen Auswirkungen der aktuellen Regelung auf Umwelt und Ungleichheit informiert werden, steigt ihre Unterstützung für alternative Modelle. Und zwar für solche Modelle, die genau diese negativen Auswirkungen abfedern, wie das Ungleichheit-reduzierende Mobilitätsgeld oder das umweltfreundlichere Skandinavische Modell. Dagegen sinkt bei entsprechender Information die Unterstützung für die aktuelle Regelung bzw. deren Ausweitung.

Handlungsempfehlungen: Negative Auswirkungen klar kommunizieren, Alternativen diskutieren

Gemäss den Ergebnissen der Untersuchung verstärkt die Pendlerpauschale tendenziell die Einkommensungleichheit. Und sie trägt zu einer Verschärfung der Umweltbelastung bei. Folglich empfehlen die Autoren der Studie: 

  1. Die Informations- und Kommunikationspolitik zu den tatsächlichen Auswirkungen des Pendlerabzugs verbessern. Die Ergebnisse zeigen, dass ein Mehr an Informationen durchaus Muster der öffentlichen Meinung beeinflussen kann. Die verbreiteten Fehlwahrnehmungen zu den Folgewirkungen der Pauschale können nur dann korrigiert werden, wenn solide Evidenz für die tatsächlichen Wirkungen vorliegt. Vor allem die Bereitstellung von Informationen zur Verteilungswirkung der Pendlerpauschale wäre ein effektiver Hebel. Die Lücke zwischen der weit verbreiteten Wahrnehmung der Pauschale als steuerpolitisches Instrument zur Unterstützung der «kleinen Leute vom Land» und ihrer tatsächlichen Auswirkung, die tendenziell Reiche begünstigt, ist hier besonders gross. Gleichzeitig ist, wie andere Studien zeigen, die allgemeine Unterstützung für umverteilende Politik, die auf eine Verringerung der Ungleichheit abzielt, in Deutschland gross – wie im übrigen auch in der Schweiz.
  2. Alternativen zur aktuellen Pendlerpauschale in die Diskussion bringen. Flankierend zur genannten Informations- und Kommunikationspolitik sollte versucht werden, den Diskussionsraum für mögliche Alternativen zur Pendlerpauschale zu erweitern. Gegenwärtig konzentrieren sich viele Reformdiskussionen auf die Frage, ob der Pauschalbetrag erhöht oder gesenkt werden soll. Es wäre aber zielführender, systematischer über Alternativmodelle zu diskutieren, die auf weiter reichende Änderungen zielen. Die Ergänzung der Entfernungspauschale durch die sogenannte Mobilitätsprämie, die einige Geringverdiener:innen seit 2021 nutzen können, zeigt, dass die finanzielle Kompensation von berufsbedingter Mobilität Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit stärker berücksichtigen kann. Um den problematischen Wirkungen der Entfernungspauschale effektiv entgegenzuwirken, bedarf es allerdings weiter gehender Reformen. 

Fazit: Zeit für eine zukunftsgerichtete Diskussion 

Eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Studien hält die indirekte Subventionierung des motorisierten Individualverkehrs für nicht mehr zeitgemäss. Die Kritikpunkte reichen von verteilungspolitischen Fragen bis hin zu den negativen Auswirkungen auf Zersiedelung, Luftverschmutzung, Lärm und den Verlust an Biodiversität. Gleichzeitig gibt es berechtigte Sorgen um die berufliche Teilhabe von Pendler:innen, insbesondere in ländlichen Gebieten. «Eine moderne Fiskalpolitik, die soziale und ökologische Ziele miteinander verbindet, könnte kreativere Ansätze verfolgen, als den Pendlerabzug pauschal zu erhöhen», sagt Adrian Rinscheid mit Blick auf die St.Galler Abstimmung. 

Internationale Beispiele zeigen Alternativen auf: In Frankreich etwa fördert das Forfait Mobilités Durables nachhaltigere Verkehrsmittel wie E-Bikes sowie Carsharing durch Steuervergünstigungen. In skandinavischen Ländern wird die Unterstützung für Autopendler:innen an Bedingungen geknüpft – etwa den Nachweis, dass keine geeigneten öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Eine weitere Idee wäre ein einkommensunabhängiges Mobilitätsgeld, das nicht nur eine Gleichbehandlung aller Verkehrsmittel gewährleisten, sondern auch die steuerliche Benachteiligung von weniger wohlhabenden Pendler:innen beheben könnte. 

Adrian Rinscheid fasst zusammen: «Ich würde es begrüssen, eine breite Diskussion über die Zukunft des Pendlerabzugs zu führen. Ziel sollte sein, die bestehende Subventionierung mittelfristig durch eine Regelung zu ersetzen, die den ökologischen Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird und die Mobilität der Zukunft fördert.»


Bild: Adobe Stock / Spitzi-Foto

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