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Hintergrund - 05.06.2025 - 09:00 

Polen zwischen Europa und nationalem Selbstbewusstsein – Einblicke aus einer Studienreise

Im Rahmen des Kontextstudiums setzten sich HSG-Studierende intensiv mit der Geschichte, der politischen Dynamik sowie den gesellschaftlichen Veränderungen Polens auseinander. Die jüngsten Präsidentschaftswahlen boten dabei einen spannenden Hintergrund für die aktuelle politische Lage und Stimmung im Land. Ein Beitrag der Exkursionsleiter Prof. Dr. Ulrich Schmid und Dr. Yves Partschefeld.
Polen zwischen Europa und nationalem Selbstbewusstsein – Einblicke aus einer Studienreise

Nach sechs Vorbereitungssitzungen des Kurses «Polen zwischen Europaphilie und posttraumatischer Souveränität» begann die siebentägige Studienreise letzte Woche in Wrocław (Breslau), einer Stadt mit einer reichen und vielschichtigen Geschichte – von ihrer slawischen Gründung über die Zeit unter österreichischer und deutscher Herrschaft bis hin zur polnischen Stadt nach 1945.

Die drei Stationen der Studienreise: Breslau, Krakau und Warschau
Die drei Stationen der Studienreise: Breslau, Krakau und Warschau

Die Stadtführungen wurden von den teilnehmenden Studierenden geführt. Sie stellten dabei das architektonische Erbe vor, geprägt durch Wasserwege und Brücken, die Wrocław den Beinamen «Venedig des Nordens» eingebracht haben. Im Centrum Historii Zajezdnia vertiefte die Gruppe ihr Wissen über den Bevölkerungsaustausch seit den 40er Jahren und die städtischen Veränderungen nach 1945. Eine aufschlussreiche Diskussion unter der Leitung von Prof. Rafał Riedel und Prof. Anna Pacześniak beleuchtete die paradoxe Haltung Polens gegenüber Europa, die zwischen Euroskeptizismus und Euroenthusiasmus schwankt.

Breslauer Rathaus

Breslauer Rathaus

Breslauer Dominsel

Breslauer Dominsel

Königsweg Krakau

Königsweg Krakau

Wawel-Kathedrale in Krakau

Wawel-Kathedrale in Krakau

Ignatianum Universität in Krakau

Ignatianum Universität in Krakau

Breslauer Rathaus
Breslauer Dominsel
Königsweg Krakau
Wawel-Kathedrale in Krakau
Ignatianum Universität in Krakau

Die wachsende Bedeutung Polens innerhalb der EU und der NATO

In Krakau, auch bekannt als die «Königsstadt Polens», berichteten die Studierenden anschaulich von der glanzvollen Vergangenheit der Stadt als mittelalterliche und frühneuzeitliche Hauptstadt des Landes. Sie zeigten, wie Krakau durch die Verbindung von Tradition und Moderne bis heute an Bedeutung gewonnen hat. Alicja Malewska, Assistenzprofessorin an der Ignatianum-Universität, bot wertvolle Einblicke in die wachsende Bedeutung Polens innerhalb der EU und der NATO. Sie hob das beständige Wirtschaftswachstum und die zentrale Rolle des Landes an der Ostflanke Europas hervor.

Im weiteren Verlauf der Erkundung besuchte die Gruppe die sozialistische Planstadt Stadt Nowa Huta, die ursprünglich als Verkörperung des stalinistischen Neoklassizismus und der sozialistischen Ideale konzipiert war. Die Studierenden betonten die spätere Rolle des Stadtteils als Wiege von Protestbewegungen, darunter die Kirchenbaukampagne der 1950er Jahre und die bedeutende Unterstützung der «Solidarność» in den 1980er Jahren, wodurch sie zu einem Ort des Widerstands wurde.
 

Warschau als Symbol für die Widerstandsfähigkeit und Erneuerung des Landes

Nach ihrer Ankunft in Warschau traf die Gruppe Dr. Bruno Surdel vom Europazentrum der Universität Warschau, der die aktuellen Präsidentschaftswahlen gekonnt in ihren historischen und politischen Kontext einordnete. Er betonte, dass die hart umkämpften Wahlergebnisse einen tiefgreifenden Einfluss auf die politische Entwicklung Polens haben würden. Warschau selbst, das im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen schwer zerstört und später mit grossem Aufwand wieder aufgebaut wurde, ist trotz der sichtbaren Narben seiner turbulenten Vergangenheit ein lebendiges Symbol für die Widerstandsfähigkeit und Erneuerung des Landes.

Am nächsten Tag stand eine umfassende Führung durch den historischen und modernen Campus der Universität Warschau auf dem Programm. Begleitet wurde die Gruppe dabei von den Kolleginnen Anna Jorroch und Grażyna Strzelecka vom Institut für Germanistik und ihren Studierenden. Sie hielten detaillierte Vorträge auf Deutsch und bewiesen damit ihr sprachliches und kulturelles Engagement. Zu den Höhepunkten zählten der Besuch der beeindruckenden Universitätsbibliothek, deren Dach eine botanische Sammlung zeigt, sowie der neuen Gebäude, die für akademische und gesellschaftliche Begegnungen ausgestattet sind. Nach der Überquerung der Weichsel in das historische Viertel Praga erlebten die Teilnehmenden eine andere Seite der Warschauer Stadtlandschaft. Diese Eindrücke wurden durch ein traditionelles Mittagessen in einer «Milchbar» aus der Zeit des Kommunismus abgerundet.

Am letzten Tag stand der eindrucksvolle Besuch des POLIN-Museums zur Geschichte der polnischen Juden sowie des angrenzenden Denkmals für die Helden des Warschauer Ghettos auf dem Programm. Letzteres ist bekannt für die Versöhnungsgeste des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt im Jahr 1970. Unter der Leitung einer engagierten Museumsführerin vertiefte die Gruppe ihr Verständnis für das komplexe jüdische Erbe Polens. Am Nachmittag lieferten Prof. Anton Saifullayeu und seine Kollegen Olga Zaharova und Vlad Kobets von iSANS eine eingehende Analyse der Beziehungen Polens zu Belarus und der Ukraine. Dabei hoben sie die geopolitischen Herausforderungen hervor, die durch die bevorstehenden Wahlergebnisse in Polen beeinflusst werden.

Warschauer Skyline

Warschauer Skyline

Denkmal des Warschauer Aufstandes

Denkmal des Warschauer Aufstandes

Königliche Schloss zu Warschau

Königliches Schloss zu Warschau

Campus der Universität Warschau

Campus der Universität Warschau

Kulturpalast Warschau

Kulturpalast Warschau

Warschauer Skyline
Denkmal des Warschauer Aufstandes
Königliche Schloss zu Warschau
Campus der Universität Warschau
Kulturpalast Warschau

Wahlausgang unterstreicht die tiefen inneren Spaltungen Polens

Die anschliessenden Präsidentschaftswahlen am vergangenen Sonntag endeten mit einem knappen Sieg von Karol Nawrocki, der von der nationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unterstützt wurde, gegen den proeuropäischen Amtsinhaber Rafał Trzaskowski. Der knappe Vorsprung unterstrich die tiefen inneren Spaltungen Polens – ein wiederkehrendes Thema während der gesamten Exkursion. Nach dem Sieg von Nawrocki kündigte Premierminister Donald Tusk eine Vertrauensabstimmung im Parlament an – ein riskanter Schachzug, der an die Auflösung des Parlaments durch den französischen Präsidenten Macron nach dessen Rückschlägen bei den Europawahlen erinnert. Zwar könnte dies die Einheit der Koalition stärken, doch birgt das Manöver auch die Gefahr, die ohnehin fragile Regierungskoalition zu destabilisieren. Selbst eine erfolgreiche Vertrauensabstimmung löst nicht das Problem der Präsidentenvetos, für deren Überstimmung eine parlamentarische Mehrheit von 60 % erforderlich ist – mehr als die derzeitige Koalitionsstärke Tusks.

Im Rückblick auf die Exkursion haben die teilnehmenden Studierenden, von denen viele zunächst nur über begrenzte Kenntnisse über Polen verfügten und im Selbstbekenntnis teilweise durch gängige Stereotypen geprägt waren, ihre Sichtweise erheblich verändert. Am Ende des Seminars erkannten sie die bemerkenswerten Erfolge Polens bei der Bewältigung der postsozialistischen Transformationen und seine dynamische Rolle im heutigen Europa. Sie gewannen eine differenziertere, fundiertere Sicht auf dieses komplexe Land.

Prof. Ulrich Schmid ist Professor für Osteuropastudien an der Universität St.Gallen. Dr. Yves Partschefeld ist Geschäftsführer der School of Humanities and Social Science (SHSS-HSG) und Lehrbeauftragter für die Geschichte Osteuropas.

Kontakt

Ulrich Schmid

Prof. Dr.

Professor für Osteuropastudien

SHSS-HSG
Büro 52-7100
Müller-Friedberg-Strasse 6/8
9000 St. Gallen

Yves Bernd Partschefeld

Dr.

Geschäftsführer SHSS-HSG

SHSS-HSG
Büro 52-7204
Müller-Friedberg-Strasse 8
9000 St. Gallen

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