Forschung - 20.08.2025 - 08:30
Sehen Bürger, die unter autoritären Regimes leben, die Wahlen in ihrem Land als fair oder als manipuliert an? In der Türkei beispielsweise hat die Regierung unter Präsident Erdogan die Oppositionskräfte systematisch untergraben, während sie weiterhin Mehrparteienwahlen abhält. Theoretisch könnten diese Wahlen immer noch zu einem Machtwechsel führen, auch wenn die Chancen für die Herausforderer schlecht stehen.
Diese paradoxe Situation wird als Wahlautoritarismus bezeichnet, und bis vor kurzem war wenig darüber bekannt, wie normale Bürger in solchen Systemen ihre Wahlen sehen.
In einem kürzlich erschienenen Artikel im British Journal of Political Science mit dem Titel „Living in Different Worlds: Electoral Authoritarianism and Partisan Gaps in Perceptions of Electoral Integrity” (Leben in verschiedenen Welten: Wahlautoritarismus und parteipolitische Unterschiede in der Wahrnehmung der Wahlintegrität) gehen Paula Windecker (Johannes Gutenberg-Universität), Ioannis Vergioglou (Universität St. Gallen) und Marc S. Jacob (Universität Notre Dame) dieser Frage auf den Grund.
Die Studie untersucht nicht, was Aussenstehende denken, sondern wie die Bürger selbst die Fairness von Wahlen wahrnehmen – und wie sich diese Ansichten zwischen Anhängern der Regierung und der Opposition unterscheiden.
Die Forscher wollten die Dinge aus der Perspektive der Bürger verstehen. In autoritären Wahlregimes hängt das Überleben des Regimes nicht nur von Repressionen ab, sondern auch davon, dass ein grosser Teil der Bevölkerung das System für legitim hält. Die Frage ist, wer daran glaubt und warum.
Das Team vermutete, dass politische Loyalität eine entscheidende Rolle spielt, insbesondere in Umfeldern, in denen die Medien stark auf die Regierungspartei ausgerichtet sind und Dissens riskant ist. Sie wollten aber auch autoritäre Systeme mit Demokratien vergleichen, um zu sehen, ob die parteipolitische Kluft grundlegend unterschiedlich ist.
In einer weltweiten Umfrage in über 100 Ländern glaubten Anhänger der Regierung in Wahlautokratien mit einer um etwa 8 Prozentpunkte höheren Wahrscheinlichkeit als Anhänger der Opposition, dass die Wahlen fair sind. In Demokratien war der Unterschied mit etwa 2 bis 3 Prozentpunkten viel geringer.
In Demokratien mögen die Verlierer murren, aber beide Seiten haben in der Regel ein gewisses Grundvertrauen in den Wahlprozess. Unter autoritären Regimes haben Anhänger und Gegner gegensätzliche Überzeugungen hinsichtlich der Legitimität ihrer Demokratie.
Anhand von Daten aus zehn Jahren des Gallup World Poll wurden Länder untersucht, die von einer Demokratie zu einem autoritären Regime übergingen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Anhänger der Opposition mit der Erosion des Systems zunehmend skeptischer gegenüber Wahlen wurden. Die Anhänger der Regierung hingegen änderten ihre Meinung überhaupt nicht.
Mit anderen Worten: Wenn die Qualität der Demokratie abnimmt, ändert nur eine Seite ihre Meinung. Die Anhänger der Regierungspartei sind zunehmend davon überzeugt, dass Wahlen fair sind, unabhängig von den Beweisen.
Warum Gruppen während der Autokratisierung weiterhin die Regierungsparteien unterstützen, bleibt eine wichtige Frage. Die Studie mit HSG-Beteiligung geht darauf nicht direkt ein, aber die Literatur schlägt mehrere Mechanismen vor.
Erstens prägen staatlich kontrollierte, stark propagandistisch geprägte Medien die Informationen und Narrative. In den letzten Jahren hat sich dies über die traditionellen Medien hinaus auf die neuen Medien ausgeweitet.
Zweitens ermutigt ein Bandwagon- oder «Gewinner»-Effekt, der auch ausserhalb von Autokratien verbreitet ist, die Wähler, sich auf die Seite derjenigen zu stellen, die als siegreich gelten.
Drittens bietet Klientelismus einigen Anhängern der Amtsinhaber materielle Vorteile, sodass ihr Optimismus gegenüber dem System teilweise auf persönlichen Vorteilen beruht. Schließlich kann die Angst vor Verfolgung, insbesondere unter Oppositionswählern oder ethnischen Minderheiten, ehrliche Antworten in Umfragen unterdrücken. Folglich sind die Ansichten der Opposition zur Fairness der Wahlen und zur Demokratie wahrscheinlich noch düsterer, als Umfragen vermuten lassen.
Um die kurzfristigen Auswirkungen zu untersuchen, konzentrierte sich die Studie auf die überraschende Ankündigung von Neuwahlen in der Türkei im April 2018. Obwohl diese Ankündigung die Nachrichten dominierte und die Wahlpolitik stark in den Fokus rückte, bewegte sie die öffentliche Meinung zur Wahlgerechtigkeit kaum.
Regierungsanhänger schätzten die «echte Wahlmöglichkeit» bei Wahlen etwas positiver ein, während die Meinung der Anhänger der Opposition unverändert blieb. Dies deutet darauf hin, dass die Wahrnehmung kurzfristig stabil ist und eher von langfristigen Loyalitäten als von Ereignissen im Wahlkampf geprägt ist.
Das Ausmass der parteipolitischen Kluft unter autoritären Regimes war auffällig. Das Team hatte zwar gewisse Unterschiede erwartet, aber die Stabilität des Vertrauens der Regierungsanhänger – selbst angesichts des Niedergangs der Demokratie – zeigt deutlich, wie widerstandsfähig politische Loyalität sein kann.
Die länderübergreifenden Daten umfassen autoritäre Wahlregime auf der ganzen Welt, darunter Malaysia, Nicaragua, Russland und mehrere afrikanische Staaten, sowie Demokratien in Europa, Asien und Amerika. So konnten die Forschenden feststellen, ob die Muster universell oder kontextspezifisch sind. Das eindeutige Ergebnis war, dass die parteipolitische Kluft ein durchgängiges Merkmal ist, wo immer ein kompetitiver Autoritarismus existiert.
In den USA und einigen anderen Demokratien hat sich in den letzten Jahren die parteipolitische Spaltung hinsichtlich der Legitimität von Wahlen vertieft, am deutlichsten nach den US-Präsidentschaftswahlen 2020. Es ist wichtig zu betonen, dass demokratische Institutionen diese Kluft in der Regel kleiner halten, aber die anhaltende Weigerung, Wahlniederlagen zu akzeptieren, kann zu autoritären Spaltungen führen.
Hier werden die Ergebnisse über autoritäre Regime hinaus relevant. Wenn eine Seite Wahlen konsequent misstraut und die andere sie als legitim ansieht, können selbst demokratische Systeme einer gefährlichen Polarisierung ausgesetzt sein.
Misstrauen gegenüber Wahlen ist oft ein Symptom für Autoritarismus, und wachsende parteipolitische Gräben sind sicherlich ein Zeichen für Probleme in Ländern, die regelmäßige und (zumindest teilweise) faire Wahlen abhalten. Stellen Sie sich ein Szenario vor, in dem sich die Wahlbehörde nicht einmal über den Prozess, geschweige denn über die Politik einig ist. In extremen Fällen kann dies zu politischer Gewalt führen (und hat dies in der Vergangenheit auch getan). Zu Vergleichs- und Forschungszwecken lässt sich der Grad der Demokratie (oder des Autoritarismus) besser quantifizieren, indem man das institutionelle politische System eines Landes untersucht und die Legislative, Exekutive und Judikative bewertet sowie den Grad ihrer Unabhängigkeit voneinander und ihrer Entstehung durch demokratische Mittel.
Das fortschrittlichste Forschungsprojekt zur Quantifizierung des Demokratisierungsgrades weltweit ist V-DEM, das auch mehrere Dimensionen und Verständnisse von Demokratie umfasst, wie Wahldemokratie, partizipative Demokratie, liberale Demokratie usw. In der Praxis schneidet ein vollständig demokratisches Land in allen Dimensionen sehr gut ab, dennoch lassen sich interessante Erkenntnisse gewinnen.
Ioannis Vergioglou ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt auf der Bewertung und Optimierung öffentlicher Investitionspolitik und Postdoktorand am Institut für Politikwissenschaft (IPW-HSG). Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen europäische Politik, Bewertung öffentlicher Politik und prädiktive Modellierung.
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