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Hintergrund - 04.05.2022 - 00:00 

Die Zeit spielt gegen Russland

Wohin steuert Russland? Dieser Frage ging eine Podiumsdiskussion mit SRF-Auslandkorrespondent David Nauer und Russland-Experte Prof. Dr. Ulrich Schmid nach. Sie erläuterten, warum Präsident Putin in der Bevölkerung grossen Rückhalt geniesst und zeigten sich überzeugt, dass die Zeit gegen Russland spielt.

4. Mai 2022. Die öffentliche Veranstaltung wurde gemeinsam vom «Echo der Zeit» von Radio SRF und der Universität St.Gallen im SQUARE durchgeführt. Unter der Leitung von SRF-Moderatorin Simone Hulliger gaben Ulrich Schmid und David Nauer Einblick in ihre Kenntnisse zur Lage in Russland und der Ukraine.

Angekündigte und doch überraschende Kriegsoffensive

Ulrich Schmid erklärte zu Beginn der Diskussion, er habe den russischen Einmarsch in die Ukraine vom 24. Februar nicht vorausgesehen. Gerade weil das Desaster eines Überfalls für Russland vorhersehbar gewesen sei, habe er die Drohungen Putins eher als Bluff eingestuft. Vor allem aber habe er den russischen Präsidenten über die Jahre als einen Strategen kennengelernt, der sich stets Optionen offenlasse. «Nun hat er sich zum Gefangenen einer Situation gemacht, die er selbst geschaffen hat.»

Zwar habe er den russischen Überfall nicht direkt vorhergesehen, doch hätten ihn Beobachtungen seit geraumer Zeit beunruhigt, betonte David Nauer. Der zunehmende Militarismus und ein Essay Putins zur Frage, warum die Ukraine eigentlich zu Russland gehöre, seien für ihn Warnhinweise gewesen. Auch der Aufbau mobiler Spitäler habe seinen Eindruck verstärkt, dass sich etwas zusammenbraue.

Podiumsdiskussion "Wohin steuert Russland"
Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands

Vom maroden Zustand zum goldenen Zeitalter

Der SRF-Auslandkorrespondent erzählte, wie er 1999 zum ersten Mal über eine längere Zeit in Russland weilte und ein Land antraf, das am Boden lag. In der Bevölkerung sei kaum Selbstwertgefühl spürbar gewesen. Als er einige Jahre später ins Land zurückgekehrt sei, habe er ein ganz anderes Bild angetroffen. Unter Präsident Putin, der Stabilität und Aufschwung versprochen habe, sei Russland mit einer enormen ökonomischen Entwicklung in ein goldenes Zeitalter geführt worden.

Gleichzeitig mit dem ökonomischen Aufschwung habe sich die Rücksichtlosigkeit Putins angedeutet, betonte Ulrich Schmid. Immer wieder habe er seine Gefühlskälte gezeigt und schliesslich angefangen an der Repressionsspirale zu drehen. Über Jahre sei der Bevölkerung eingetrichtert worden, man stehe immer noch im Kampf gegen die Nazis. Einer der wichtigsten Slogans Putins sei deshalb, Russlands Bestreben sei es, einen noch immer andauernden Krieg zu beenden.

Podiumsdiskussion "Wohin steuert Russland"
SRF-Moderatorin Simone Hulliger

Sanktionen zeigen irgendwann spürbare Wirkung

Von Moderatorin Simone Hulliger auf die Sanktionen angesprochen, erklärte Ulrich Schmid, die Zeit spiele eindeutig gegen Russland und gegen Putin, weil das Land irgendwann den Gesellschaftsvertrag nicht mehr erfüllen könne. «Versiegen die gigantischen Einnahmen aus dem Energie- und Rohstoffhandel können sie nicht mehr in Rentenzahlungen umgewandelt werden und somit funktioniert der Gesellschaftsvertrag nicht mehr.» Es werde sich zeigen, wie sich dies auf die Reaktionen in der Bevölkerung und in der Entourage Putins auswirken werde.

Putin hoffe darauf, die fehlenden Einnahmen aus dem Westen mit Beziehungen zu China und Indien kompensieren zu können, ergänzte David Nauer. Er glaube nicht daran, dass dies funktioniere, da sich die angesprochenen Länder wohl zweimal überlegten, ob es sich tatsächlich wirtschaftlich lohne, mit dem Westen zu brechen. «Solange Putin an der Macht bleibt, wird er wohl zunehmend isoliert sein.»

Ulrich Schmid sprach Umfragen an, welche innerhalb eines internationalen Forschungsprojekts zum Regionalismus in der Ukraine durchgeführt wurde. Er koordiniert das Forschungsprojekt seit 2011. Das Fazit der Befragungen sei, dass die Meinungen der Bevölkerung in der Ukraine keineswegs – wie von Putin behauptet – einen markanten Gegensatz zwischen der Ost- und der Westukraine zeige. Bei ganz verschiedenen Themen seien sie asymmetrisch verteilt.

Podiumsdiskussion "Wohin steuert Russland"
SRF-Auslandkorrespondent David Nauer

Als Retter der Ukraine in die Geschichtsbücher eingehen

Die Podiumsdiskussion fand in hybrider Form statt. Zuhörerinnen und Zuhörer verfolgten die Ausführungen entweder vor Ort im SQUARE oder mit einer Online-Teilnahme. Sie stellten den beiden Fachexperten rege Fragen. So wollten sie beispielsweise wissen, wie es um den Gesundheitszustand Putins steht. Schon viel sei über ernsthafte Erkrankungen spekuliert worden, jedoch gebe es darüber keinerlei gesicherten Informationen lautete die einhellige Antwort dazu.

Zur Frage, ob es Putin tatsächlich – wie schon oft gelesen – vor allem darum gehe, in die Geschichtsbücher einzugehen, bestätigte Ulrich Schmid. Innenpolitische Missstände wie beispielsweise die marode Gesundheitsversorgung interessierten ihn kaum. Hingegen sei er getrieben, die historische Einheit von Russland, der Ukraine und Weissrussland wieder herzustellen. «Das hat sich als unrealistisch herausgestellt. Im Moment geht es ihm deshalb darum, das Gesicht zu wahren.» Aber Putin wolle eindeutig als Retter der Ukraine und als Vereiniger der russischen Länder in die Geschichte eingehen.

Text: Claudia Schmid

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