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Forschung - 07.11.2019 - 00:00 

Corporate Governance: Debatte über die Rolle der Grossunternehmen

Implenia, Syngenta, Clariant – das sind nur drei von zahlreichen Schweizer Konzernen, die in jüngster Zeit unter Druck von Investoren gerieten, die bessere finanzielle Ergebnisse forderten, und zwar kurzfristig. Doch kann Sinn und Zweck von Unternehmen allein ein kurzfristig monetärer sein? Wieviel Einfluss dürfen Investoren aus kurzfristigem Interesse ausüben, wenn sie damit gleichzeitig eine langfristig gesunde Entwicklung des Unternehmens gefährden? Und warum schauen wir dieser Entwicklung tatenlos zu? Das Corporate Governance Competence Centre der Universität St.Gallen (HSG) um Prof. Dr. Andreas Binder und Prof. Winfried Ruigrok, Ph.D. erachtet eine Debatte dazu als dringlich.

7. November 2019. Seit einiger Zeit wird weltweit eine Diskussion über den Sinn und Zweck und die Zukunft des Kapitalismus geführt. Dabei stehen einander zwei Positionen gegenüber.

Einerseits müssen Unternehmen zukunftsorientierte Strategien effizient und profitabel umsetzen. Und wenn sie dies schaffen, profitieren ihre Aktionäre durch höhere Aktienkurse. «Dieser finanzielle Anreiz fördert das Unternehmertum und die wirtschaftliche Innovation; er bildet das Kernstück des modernen Kapitalismus und stellt sicher, dass die Schweiz auch in der Zukunft ein attraktiver Wirtschaftsstandort bleibt», sagt Prof. Dr. Winfried Ruigrok, Dean der Executive School für Management, Technologie und Law sowie Professor für internationales Management an der Universität St.Gallen.

Anderseits sind die Anforderungen der Öffentlichkeit gestiegen. Die global tätigen Schweizer Konzerne sollen dem Gebot der Nachhaltigkeit nachleben, sie sollen weltweite Innovationsführer sein, sie sollen sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze anbieten, sie sollen sich zu sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung bekennen, kurzum: sie sollen gleichzeitig Wert schaffen für Aktionäre, Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten und die Öffentlichkeit und deren langfristige Zufriedenheit und Loyalität fördern.

«Häufig wirkt aber das Instrumentarium, welches das Gesetz und die gelebte Praxis den Wirtschaftsführerinnen und -führern zur Verfügung stellt, gegenläufig», sagt Prof. Dr. Andreas Binder, Direktor des Corporate Governance Competence Centre an der Forschungsstelle für Internationales Management (FIM-HSG) der Universität St.Gallen. «Die von Investoren eingeforderte Quartalsberichterstattung führt zu einem steten hohen Druck dieser Investoren, der Medien und damit der Öffentlichkeit auf kurzfristige Erfolge und steigende Aktienkurse.» Entwickelt sich der Aktienkurs eines Unternehmens während ein paar Quartalen schlechter als jener der Konkurrenz, werden regelmässig kurzfristig kurssteigernde Massnahmen gefordert wie Verkäufe von Unter-nehmensteilen, Fusionen oder die Rückführung von Eigenkapital an die Aktionäre zwecks Steigerung der Eigenkapitalrendite. «Dringen diese Ansinnen durch, geht dies häufig langfristig auf Kosten der Innovationskraft und damit des nachhaltigen Erfolgs des Unternehmens», sagt Andreas Binder.

Grundlegender Wandel im Aktionariat

Vor 30 Jahren waren die Aktien der grossen Schweizer Unternehmen zu zwei Dritteln im Besitz von privaten Personen und Unternehmen, heute sind sie grossmehrheitlich im Besitz von institutionellen Investoren, namentlich Pensionskassen, Versicherungen, Aktien- und Hedgefonds. Vor 30 Jahren waren diese Aktien mehrheitlich im Besitz von Schweizern, heute von Ausländern. Und vor 30 Jahren betrug die durchschnittliche Haltedauer an Aktien mehrere Jahre, heute bloss noch Monate.

Ein weiteres neues Phänomen sind grosse Staatsfonds und andere Investoren aus Ländern, die keine offenen Volkswirtschaften sind und auf einem anderen Wirtschaftssystem als jenem der westlichen Welt basieren. Sie verfügen über enorme finanzielle Mittel, die es ihnen ermöglichen, auf ihren immer grösseren und schnelleren Einkaufstouren Juwelen der westlichen Industriewelt aufzukaufen, ohne dass diese Staaten den westlichen Unternehmen das Gegenrecht gewähren, in ihren Ländern Unternehmen erwerben zu können. «Schweizer Unternehmen sind ein bevorzugtes Ziel dieser Investorinnen und Investoren, denn es ist hierzulande sehr einfach, ein Unternehmen und dessen Knowhow zu erwerben», sagt Andreas Binder.

Vier Corporate Governance-Leitsätze als grundlegendes Koordinatensystem

Angesichts dieser Entwicklungen und Herausforderungen haben die Mitglieder des Advisory Board des Corporate Governance Competence Centre an der HSG – ein interdisziplinäres Team aus Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Wirtschaft – vier Leitsätze ausgearbeitet, welche als grundlegendes Koordinatensystem für Fragen zur Corporate Governance bei Publikums-gesellschaften (d.h. Gesellschaften, deren Aktien an einer Börse gehandelt werden) gelten sollen:

1. Die Rolle der Publikumsgesellschaft in der Gesellschaft

Publikumsgesellschaften (und grössere Unternehmen im Allgemeinen) haben eine gesellschaftliche Verantwortung. Die gesellschaftliche Verantwortung besteht darin, unter Wahrung allgemein anerkannter ökologischer und sozialer Ziele eine gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung und eine nachhaltige und gesunde Entwicklung des Unternehmens anzustreben. Dies setzt voraus, dass das Unternehmen seine Kapitalkosten überverdient.

2. Träger der gesellschaftlichen Verantwortung

Wenn Unternehmen eine gesellschaftliche Verantwortung zukommt, muss diese Leitplanke für alle Entscheidungsträger im Unternehmen gelten: Verwaltungsrat, Management, Mitarbeitende und Aktionariat. Für die Wahrnehmung dieser Aufgabe sind in erster Linie der Verwaltungsrat und das Management zuständig und verantwortlich. Verantwortungsvolle Aktionäre respektieren dies und leisten dabei Unterstützung.

3. Investieren und innovieren

Der zukünftige Erfolg eines Unternehmens – und einer Volkswirtschaft – hängt entscheidend von der Bereitschaft ab, zu investieren und zu innovieren.

4. Geduldiges Kapital

Um Investitionen und Innovationen zu ermöglichen, braucht es langfristig zur Verfügung gestelltes Kapital. Institutionelle Investoren und Asset Manager, die sich zu einem nachhaltigen Investitionsverhalten bekennen, sollen den Personen, denen gegenüber sie verantwortlich sind, Rechenschaft ablegen, wie sie in einer Übernahmesituation oder bei einem anderen für das Unternehmen bedeutsamen Ereignis ihr Stimmrecht ausüben und ob und weshalb sie ihre Aktien veräussern oder ausleihen.

Die folgenden Personen sind Mitglieder des Advisory Board:

  • Andreas Binder, Prof. Dr. iur. et lic. oec., Universität St.Gallen (Vorsitz)
  • Winfried Ruigrok, Prof., Ph.D., Universität St.Gallen
  • Peter Gomez, Prof. em. Dr. oec., Universität St.Gallen
  • Franz Jaeger, Prof. em. Dr. oec., Universität St.Gallen
  • Peter Forstmoser, Prof. em. Dr. iur., Universität Zürich
  • David P. Frick, Senior Vice President Nestlé
  • Bruno Gehrig, Prof. em. Dr. oec., Universität St.Gallen
  • Roman Gutzwiller, Dr. iur., Mitglied der World Economic Forum Global Shapers Community
  • Bruno Heynen, ehem. Sekretär der Konzernleitung und des Verwaltungsrats von Novartis
  • Ines Pöschel, Rechtsanwältin und Corporate Governance-Expertin
  • Katja Roth Pellanda, Dr. iur., Sekretärin der Konzernleitung von Novartis
  • Markus Steiner, Dr. iur., CEO State Street Bank, Zürich
  • Gianina Viglino-Caviezel, Dr. oec., Mitglied der World Economic Forum Global Shapers Community
  • Rudolf Wehrli, Dr. phil. et Dr. theol., ehem. Präsident der Economiesuisse

Die Mitglieder des Advisory Board sind überzeugt, dass ein breiter gesellschaftspolitischer Diskurs zum Thema notwendig ist und sich Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit grundsätzliche Gedanken über den Sinn und Zweck der Publikumsgesellschaft und deren Rolle in der Gesellschaft machen muss. «Und da bei dieser anspruchsvollen Gedankenarbeit die jahrzehntelang zelebrierte Antinomie des Shareholder Value vs. Stakeholder Value nicht weiter führt, haben wir nach neuen Begriff-lichkeiten gesucht, um der notwendigen Debatte Schwung zu verleihen», sagt Andreas Binder. Die Corporate Governance-Leitsätze sollen die Basis für einen offenen und vorurteilslosen Diskurs bieten.

Die Mitglieder des Advisory Board geben mit der Unterzeichnung der Corporate Governance-Leitsätze ihre persönliche Meinung wieder und nicht die Meinung der Organisationen, denen sie angehören.

Konkrete Fragestellungen

Gemäss Andreas Binder berühren die Corporate Governance-Leitsätze eine Vielzahl aktueller und konkreter Fragestellungen, so unter anderem:

  • die Schaffung von Rechtssicherheit bezüglich der Möglichkeit der Gesellschaften, Loyalitätsaktien für längerfristige Investoren auszugeben (thematisiert in der laufenden Aktienrechtsrevision);
  • die Möglichkeit, Aktionäre vom Stimmrecht auszuschliessen, wenn sie das mit den Aktien verbundene wirtschaftliche Risiko nicht selbst tragen (thematisiert in der laufenden Aktienrechtsrevision);
  • die Schaffung einer Prüf- und Bewilligungsbehörde für ausländische Direktinvestitionen (aktuell thematisiert im Bundesparlament mit der Motion Rieder);
    wie man die Governance bei Publikumsgesellschaften ausserhalb von gesetzlichen Vorgaben hin zu mehr Nachhaltigkeit verändern kann oder
  • was ein liberales Aktien- und Übernahmerecht ist (eines, das viele zwingende Vorschriften enthält oder eines, das eine Ermöglichungsgesetzgebung darstellt)

«Schliesslich kulminiert alles in der Frage, was der Sinn und Zweck der Publikumsgesellschaft ist. Diese Frage wird heute weltweit thematisiert, und wir wollen den Diskurs aktiv mitgestalten», meint Andreas Binder.

Bild: Adobe Stock / WavebreakMediaMicro

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