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Forschung - 04.07.2024 - 11:10 

Warum Wladimir Putin Verwandte und Freunde zu Spitzenbeamten macht: Ein Interview mit der HSG-Korruptionsexpertin Elena Denisova-Schmidt

Der russische Präsident Wladimir Putin hat seit seiner Wiederwahl mehrere wichtige Staatsposten mit Verwandten oder Freunden besetzt. Putin wolle garantieren, dass er nahe an Macht und Finanzmitteln bleiben, sagt die HSG-Privatdozentin Elena Denisova-Schmidt im Interview. Sie forscht zu Korruption und informellen Praktiken in Russland und der Ukraine. 
Quelle: HSG Newsroom

Bildlegende: Der Kreml, Sitz der russischen Regierung.

 

Wladimir Putin hat in den letzten Monaten diverse hohe Beamte durch Verwandte und Zugewandte ersetzt. Warum passiert das gerade jetzt? 

Elena Denisova-Schmidt: Es ist üblich, dass nach den russischen Präsidentschaftswahlen Schlüsselpositionen ausgetauscht werden. Dieses Mal ist es aber auffällig, dass viele Kinder von Putins engsten Vertrauten und sogar aus seiner direkten Familie befördert wurden. Einige Beispiele dafür: Putins Nichte Anna Ziwiljowa (52) wurde zur stellvertretenden Verteidigungsministerin ernannt, ihr Ehemann zum neuen Energieminister. Dmitrij Patruschew (46) ist neuer Vize-Premierminister. Er ist der Sohn von Nikolaj Patruschew, eines Studienfreundes des Präsidenten. Der neue Vorsitzende des Rechnungshofes ist Boris Kowaltschuk (46) – er ist der Sohn von Jurij Kowaltschuk, einem erfolgreichen Geschäftsmann und engem Vertrauten von Putin.

Welche Ziele verfolgt Putin damit?

Er möchte garantieren, dass diese einflussreichen Familien weiterhin Zugang zur Macht und zu Finanzmitteln haben, wenn Putin oder seine politischen Verbündeten dereinst nicht mehr leben. Wir dürfen nicht vergessen, dass Putin mit seinen 71 Jahren zumindest nach russischen Verhältnissen in einem reifen Alter ist. Die Lebenserwartung für russische Männer betrug 2023 gerade mal 66 Jahre. Außerdem könnte die Neuordnung ein Zeichen dafür sein, dass diese Bereiche – Verteidigung, Energie, öffentliche Finanzen - für Putin besonders wichtig sind. 

Gibt es in der russischen Öffentlichkeit eine Diskussion über diese Besetzungen?

Nein, denn bekannterweise ist der Zugang zu regierungskritischen Medien in den letzten zwei Jahren schwierig geworden. Die meisten Menschen wissen darum nicht, in welchen Beziehungen die neuen Spitzenbeamten zueinander oder zu Putin stehen. Der russische Staat versucht auch, diese familiären Bande möglichst geheim zu halten. Putin etwa distanziert sich von seinen zwei erwachsenen Töchtern. Diese sind beide Geschäftsfrauen und sind dieses Jahr am International Economic Forum in St.Petersburg aufgetreten. Ausserdem haben die meisten Menschen in Russland derzeit andere Sorgen. Sie fürchten etwa eine erneute Teilmobilmachung wegen des Ukrainekrieges, sie sind besorgt wegen der Häufung an terroristischen Anschlägen im Inland oder sie haben ganz einfach mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. 

Welche Bedeutung hat Nepotismus – also die Bevorzugung von Verwandten oder Freunden – in Russlands Geschichte und Gesellschaft?

Grundsätzlich haben solche Praktiken in Russland eine lange Geschichte. Das heutige Ausmass dieses Nepotismus in hohen Regierungskreisen ist aber massiv. Die Bevorzugung von Freunden und Verwandten im Berufsleben hat in Russland auch weitere Gründe. So hat die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg viele sogenannte Monostädte aufgebaut. Diese sind von einem einzigen Produktionsbetrieb geprägt. Das heisst, dass praktisch alle Bewohnenden am gleichen Ort arbeiten – sie kennen sich also schon aus ihrem Sozialleben, bevor sie zusammenarbeiten. Solche informellen Beziehungen müssen aber nicht nur schlecht sein. Wer jemanden privat kennt, kann auch eher einschätzen, was dessen Stärken und Schwächen im Arbeitsleben sind. 

Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung sind informelle Praktiken in Russland sowie der Ukraine. Was sind informelle Praktiken und wie schätzen Sie deren Bedeutung ein?

Informell heisst, wenn etwas ausserhalb eines formellen Rahmens wie einem Protokoll, einem Dienstweg oder einem Gesetz passiert. Es beschreibt ein Vorgehen, mit dem Dinge schnell und unkompliziert erledigt werden. Informell bedeutet aber nicht zwingend illegal. Allgemein gesehen – und dies bezieht sich nicht nur auf Osteuropa und Russland – ist die Bedeutung, die informelle Praktiken haben, recht gross. Die Schweiz beispielsweise erhält in den Korruptionsmessungen von Transparency International gute Noten, dennoch spielen in dem kleinräumigen Land familiäre und andere Beziehungen eine wichtige Rolle auch in Politik und Wirtschaft. Oder das sogenannte «old boy network» in Grossbritannien: Dort stellen Absolventen von wenigen Elitehochschulen einen grossen Teil der Führungskräfte des Landes.    

Wie haben sie informelle Praktiken, die ja im Verborgenen geschehen, erforscht?

Ich bin dafür über Jahre nach Russland und in die Ukraine gereist. Meine Forschung habe ich in Unternehmen und Universitäten betrieben. Ich habe beispielsweise Interviews mit Einzelpersonen und Gruppen geführt, auch Experimente und Beobachtungen durchgeführt. Während der Pandemie wurden diese Reisen schwieriger und seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind sie unmöglich geworden. Russische Universitäten waren vor dem Krieg teils stark international ausgerichtet, etwa was Studierende und Forschung betrifft. Das ist alles zum Stillstand gekommen. Die gemeinsamen Forschungsprojekte mit russischen Kolleg:innen kann ich nicht weiterführen, auch um diese in ihrem Heimatland nicht zu gefährden. 

Wie nehmen Sie die politische Stimmung in Russland wahr, gerade auch mit ihrem Einblick in soziale und geschäftliche Hintergründe?

Putins Narrativ, dass Russland in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen die USA und die NATO führt, ist in der Gesellschaft weit verbreitet. Andere Meinungen zu äussern ist zudem gefährlich. Das aktuelle System steht damit gefestigt da. Dazu tragen die Besetzungen von Schlüsselpositionen mit Verwandten und Freunden natürlich weiter bei. 
 

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