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Forschung - 10.09.2024 - 11:30 

Die Rolle von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit in Entscheidungsprozessen

HSG-Professor Patrik Aspers beschäftigt sich am Lehrstuhl für Soziologie mit Unsicherheitsreduktion und dem Prozess, wie Entscheidungen zustande kommen. Wie Menschen nach Gewissheit streben und welche Rolle Wissen dabei spielt, erklärt der Forscher im Interview.
Quelle: HSG Newsroom

Patrik Aspers, welche Themen beschäftigen Sie aktuell?

Zurzeit beschäftige ich mich mit der Frage, wie Organisationen mit Ungewissheit und Mehrdeutigkeit in Entscheidungsfindung umgehen – nämlich den beiden Hauptbedingungen, die diesen Prozess belasten und erschweren. Entscheidungsträger gehen auf unterschiedliche Weise mit Unsicherheit um: Einige versuchen, sie zu verringern oder sich auf sie vorzubereiten, andere scheinen sie zu begrüssen oder versuchen, sie zu vergrössern. In meiner Arbeit möchte ich diesen Prozess empirisch analysieren und nach gemeinsamen «Markern» für die Bewältigung von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit suchen. 

Was interessiert Sie an diesem Thema?

Mein Interesse an der Unsicherheit rührt daher, dass ich mich mit grundlegenden sozialwissenschaftlichen Forschungsfragen beschäftige. Unsicherheit ist eine dieser grundlegenden Fragen, mit der sich nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – Soziologinnen und Soziologen beschäftigt haben, sondern auch Ökonomen, Politikwissenschaftler und Anthropologen. Sie konzentrieren sich eher auf die ganz ‘praktischen’ Fragen, die damit verbunden sind. 

Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Meine Arbeit ergänzt die bestehende Forschung, indem sie sich darauf konzentriert, dass viele Probleme, mit denen Entscheidungsträgerinnen – und träger konfrontiert sind, nur in einem gemeinsamen Raum, wie z.B. einem Besprechungszimmer, angesprochen und effektiv gemeinsam gelöst werden können. Ich beginne mit einem praktischen Problem, mit dem eine Organisation konfrontiert sein kann, und konzentriere mich dann auf Lösungen, die von mehreren Akteuren ausgehen. Um beispielsweise ein gewisses Mass an Stabilität und Vorhersehbarkeit in einem Geschäftsumfeld zu erreichen, damit Unternehmen investieren und Politiker sich auf die Festlegung der Spielregeln konzentrieren können, müssen die Akteure einander vertrauen. Das Problem des Vertrauens, um bei diesem Beispiel zu bleiben, stellt sich vor dem Unterzeichnen formeller Verträge. Vertrauen ist aber keine Selbstverständlichkeit. Ein einzelnes Unternehmen kann nicht viel tun, um Vertrauen oder andere Tugenden wie Fairness zu schaffen oder zu erzwingen. Vertrauen ist in der Regel etwas, das im Laufe der Zeit wächst, da die Akteure in ihren Interaktionen im Laufe der Zeit Vertrauen aufbauen.

Ich möchte betonen, dass Unsicherheit und Mehrdeutigkeit nicht nur ein Problem darstellen, sondern in vielen Fällen eine notwendige Bedingung sind. Im Sport können Organisationen darauf abzielen, Unsicherheit zu schaffen. In der NHL (nordamerikanische Eishockeyliga) gibt es Regeln, die sicherstellen, dass Teams mit schwachen Leistungen Chancen erhalten, die bestplatzierten Neuzugänge für die kommende Saison zu verpflichten. Diese Regel schafft Unsicherheit, was im Profisport gut ist. Denn Sicherheit bedeutet, dass man mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weiss, welche Mannschaft gewinnen wird. 

Ein anderes Beispiel: Das 100-Meter-Rennen im August 2024 in Zürich zwischen Karsten Warholm, dem aktuellen Weltrekordhalter über 400 Meter, und Armand Duplantis, dem Rekordhalter im Stabhochsprung, stiess auf grosses Interesse, weil der Ausgang sehr ungewiss war. 

Religion ist ein weiterer Bereich, der von Mehrdeutigkeit lebt, weil die narrativen Erklärungen, was existiert und warum Dinge geschehen, letztlich nicht wissenschaftlich erklärbar sind. Offensichtlich geht es auch im unternehmerischen Handeln darum, Chancen unter Unsicherheit und Mehrdeutigkeit zu nutzen. Wenn wir alles wüssten, wäre es einfach zu wissen, was zu tun ist – und jede und jeder könnte es tun. Kurz gesagt: Gewissheit ist manchmal einfach langweilig.

Hat Sie etwas an den Ergebnissen überrascht?

Lassen Sie mich zunächst meine ursprünglichen Hypothesen erläutern. Ich ging davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit, die bereits 1921 von Frank Knight getroffen wurde, verwässert wurde. Damit meine ich, dass viele Forschende, die von Unsicherheit sprachen, diese als einen Zustand betrachteten, dem man eine Wahrscheinlichkeit zuschreiben und den man somit berechnen konnte. Knight ist jedoch der Ansicht, dass genau dies nicht möglich ist. Stattdessen sind die meisten Situationen und Bedingungen, mit denen wir als Menschen konfrontiert sind, ungewiss. Was bedeutet, dass wir nicht wissen, was in der Zukunft passieren wird, wenn wir handeln. 

Mehrdeutigkeit ist eine Frage der Interpretation, die einen neuen Horizont von Problemen und Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen eröffnet. Kriegssituationen sind nur zum Teil gewiss, aber das, was geschieht, kann oft sogar mehrdeutig sein. Was beispielsweise zunächst als kleiner Angriff interpretiert wird, kann sich als strategischer Sieg erweisen, der weitere Siege nach sich zieht. Um mit solchen Bedingungen umzugehen, kann eine Organisation zum Beispiel versuchen, mehr zu erfahren.

Was bedeutet das für die Gesellschaft, was können wir aus den Ergebnissen ableiten?

Unter der Bedingung der Mehrdeutigkeit ist es nicht einfach zu bestimmen, was wahr und was falsch ist. Stattdessen bleibt offen, was zu einer Situation führt, in der es mehrere verschiedene Interpretationen gibt – ohne eine objektive Möglichkeit, zwischen ihnen zu entscheiden.

Einige Akteure können ein starkes Interesse daran haben, den Bereich der Mehrdeutigkeit zu vergrössern, während andere in der Regel versuchen, ihn zu verkleinern. Wissenschaftliche Arbeit reduziert Mehrdeutigkeit, indem sie Dinge herausfindet und Bereiche erforscht, um uns darüber zu informieren, was ist und was nicht ist. Aber es muss auch klar gesagt werden, dass in vielen Bereichen die Dinge weder wahr noch falsch sind. Stattdessen kommt es auf den Geschmack oder unterschiedliche Vorlieben an. Das gilt für die unterschiedlichen Vorlieben der Menschen beim Essen, aber auch in der Kunst, um nur zwei Bereiche zu nennen. Auch hier liegt die Lösung also nicht unbedingt in der Reduktion von Mehrdeutigkeit, sondern im Umgang mit ihr – in ihrer Akzeptanz.  

Wie kann dies die Art und Weise verändern, wie wir Entscheidungen treffen?

Indem wir über Mehrdeutigkeit nachdenken, können wir uns mit ihr auseinandersetzen. Dies wirft Fragen über Ehrlichkeit und die Notwendigkeit auf, sowohl als einzelner Mensch als auch kollektiv die Versuche einzuschränken, Mehrdeutigkeit nicht zu einem Dauerzustand werden zu lassen. Auch wenn sowohl die Ungewissheit als auch die Mehrdeutigkeit uns die Möglichkeit bieten, zu reflektieren, neu zu bewerten und zu handeln. Nicht alles kann gleichzeitig mehrdeutig und unsicher sein.

Patrik Aspers ist Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität St.Gallen. Zuvor hatte er Positionen in Schweden und Deutschland inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschaftssoziologie und soziologische Theorie. Einen weiteren Beitrag zu seiner Arbeit über Unsicherheitsreduktion finden Sie im Magazin HSG Focus.

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